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Neurobiologie

Kindheitsumgebung prägt unseren Orientierungssinn

Ungeordnete Städte und ländliche Umgebungen fördern spätere Navigations-Fähigkeit

STadtstrukturen
Ob man in einer historisch gewachsenen, verwinkelten Stadt wie London (links) aufwächst oder im rechtwinkligen Straßengitter von New York, beeinflusst die späteren Navigations-Fähigkeiten. © Antoine Coutrot und Ed Manley

Nachhaltige Prägung: Die Umgebung unserer Kindheit beeinflusst, wie gut wir uns später orientieren können. So fördern die ungeordneten Strukturen von ländlichen Gegenden oder historisch gewachsenen Städten die Navigations-Fähigkeiten positiv. Das Aufwachsen in einer gitternetzartig geordneten Großstadt hingegen schmälert den Orientierungssinn, wie eine Spielstudie mit knapp 400.000 Menschen aus aller Welt belegt.

Ob der Weg zum Einkaufen, zur Arbeit oder zu einem Bekannten: Dank unseres Orientierungssinns finden wir die meisten alltäglichen Ziele problemlos. Dabei helfen uns mentale Karten – von speziellen Ortszellen im Gehirn erstellte Abbilder bekannter Umgebungen. Zusammen mit Landmarken ermöglicht uns dies die Navigation und lässt uns dabei instinktiv bestimmte Routen bevorzugen.

Doch warum sind die Navigations-Fähigkeiten bei uns Menschen zu unterschiedlich? Während einige Menschen selbst in wenig vertrauten Umgebungen scheinbar mühelos ans Ziel finden, verlieren andere schnell die Orientierung. Zwar legen Studien nahe, dass ein Teil der Navigations-Fähigkeiten genetisch bedingt ist und auch vom Geschlecht abhängt. Aber das allein kann die Unterschiede nicht erklären.

Sea Hero Quest
Im Spiel „Sea Hero Quest“ muss man durch eine unbekannte Inselwelt navigieren – je nach Level bei Tag oder bei Nacht. © Antoine Coutrot

Ein Online-Spiel als Navigationstest

Deshalb haben Antoine Coutrot von der Universität von Lyon und seine Kollegen sich auf Spurensuche in die Kindheit begeben. Dafür werteten sie die Daten von 397.162 Testpersonen aus 38 Ländern aus, die an einem eigentlich zur Alzheimer-Früherkennung gedachten Online-Spiel teilgenommen hatten. In der App „Sea Hero Quest“ müssen Teilnehmende ihren Weg durch das Labyrinth einer virtuellen Ozeanwelt mit Inseln und Eisbergen finden.

Die Spielenden bekommen anfangs eine Karte mit anzusteuernden Zielpunkten und müssen dann anhand von Richtungsentscheidungen und Landmarken ihren Weg dorthin finden. „Das Abschneiden im Sea Hero Quest hat sich als gutes Maß für die Navigations-Fähigkeiten auch in der realen Welt erwiesen“, erklären die Forschenden. Die Ergebnisse sowie Angaben zum persönlichen Hintergrund wurden mit Einwilligung der Teilnehmer in einer Datenbank zur wissenschaftlichen Auswertung gespeichert.

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Dies ermöglichte es dem Forschungsteam, nach Faktoren zu suchen, die gut abschneidende Teilnehmende von weniger erfolgreichen unterschieden.

Landbewohner besser als Stadtkinder – meistens

Die Auswertungen enthüllten: Wie gut ein Mensch als Erwachsener navigieren kann, hängt stark von der Umgebung seiner Kindheit ab. Menschen, die auf dem Land aufgewachsen waren, schnitten in den Tests signifikant besser ab als Gleichaltrige aus Städten. Dies galt für alle Länder und kulturübergreifend. „Außerhalb einer Stadt aufzuwachsen scheint für die Entwicklung der Navigations-Fähigkeiten günstig zu sein“, sagt Koautor Hugo Spiers vom University College London.

Auffallend jedoch: Die Stadt-Land-Unterschiede waren nicht überall gleich groß. So war der Abstand zwischen urban aufgewachsenen Menschen und Landkindern in den USA oder Argentinien deutlich größer als zwischen Stadt- und Landbewohnern aus Deutschland, Griechenland oder Irland. Bei einigen Ländern wie Rumänien, Österreich oder Indien kehrte sich das Verhältnis sogar um, wie Coutrot und seine Kollegen feststellten.

Stadtstrukturen
Historische Stadtstrukturen (oben) haben viele verschiedene Winkel (oben), das schult die Orientierung. © Coutrot et al./Nature

Auf die Ordnung kommt es an

Was aber steckt dahinter? Nähere Analysen ergaben, dass die Struktur der Kindheitsumgebung die entscheidende Rolle für den späteren Orientierungssinn spielt. Je ungeordneter und vielfältiger das räumliche Muster der Umgebung ist, desto besser ausgeprägt sind die späteren Navigationsfähigkeiten. Die unregelmäßige Struktur der ländlichen Umgebung, aber auch die verwinkelten Straßen historisch gewachsener Städte wirken sich daher positiv aus.

„Wenn man in einer Gegend mit einem komplexeren Muster der Straßen oder Wege aufwächst, dann fördert dies die Orientierung, weil es schwerer ist, die richtige Richtung im Blick zu behalten“, erklärt Coutrot. Als entscheidend erwies sich dabei vor allem die Vielfalt der Winkel in solchen ungeordneten Umgebungen und die Zahl der Kreuzungen. Je häufiger man beim Abbiegen vom 90 Grad-Winkel abweichen muss, desto stärker scheint der Lerneffekt, wie die Analysen ergaben.

Wächst man hingegen im rechtwinkligen Straßengitter beispielsweise einer US-Großstadt auf, sind die mentalen Anforderungen geringer – und entsprechend weniger stark wird das Gehirn trainiert.

Je „unordentlicher“ desto besser

Dies erklärt, warum nicht alle in der Stadt aufgewachsenen Testpersonen gleich gut abschnitten und warum es teilweise deutliche Länderunterschiede gab: Viele Städte in Deutschland und anderen Ländern Europas sind historisch gewachsen und daher entsprechend verwinkelt. Auch in Asien, beispielsweise Thailand oder Indien, ist dies der Fall, wie das Team erklärt. Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist daher zumindest im Hinblick auf die räumliche Ordnung weniger groß.

In den USA, in Kanada oder Argentinien dagegen wurden Städte oft erst in der Neuzeit erbaut und am Reißbrett entworfen. Die Struktur beispielsweise von New York, Chicago oder Buenos Aires folgt daher einem starr rechtwinkligen Schema. In diesen Ländern haben daher Kinder, die in ländlichen, weniger starr geordneten Umgebungen aufwachsen, später die besseren Navigations-Fähigkeiten. (Nature, 2022; doi: 10.1038/s41586-022-04486-7)

Quelle: CNRS, University College London

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