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Neurobiologie

Gehirn spart Rechenleistung

Neue Kunstfertigkeiten werden in vereinfachten Speichern abgelegt, um sie mühelos abrufbar zu machen

Wissenschaftler haben in einer Studie an Musikern und Nichtmusikern herausgefunden, wie das menschliche Gehirn sich „Rechenleistung“ spart: Es ist in der Lage, schwierige Bewegungen so zu speichern, dass sie bei Bedarf schnell und ziemlich mühelos wieder abgerufen werden können.

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Die Forscher um Professor Joseph Claßen vom Universitätsklinikum Leipzig stellen die Ergebnisse ihrer neuen Studie zusammen mit Kollegen aus Würzburg jetzt in der Fachzeitschrift „Current Biology“ vor.

Bei ihren Experimenten betrachteten die Wissenschaftler die Fingerbewegungen von Geigern und Pianisten. Zunächst zeichneten sie auf, wie diese nach oft jahrelangem Training bestimmte Griffe auf ihren Instrumenten ausführten. Die daraus entstandenen Bewegungsmuster untersuchten sie dann auf Regelhaftigkeiten.

Magnetstimulation im Einsatz

Anschließend lösten die Forscher mit der so genannten transkraniellen Magnetstimulation, einer schmerzlosen und gefahrlosen Methode, Fingerbewegungen durch Reizung der Hirnrinde aus. Die Methode erlaubt es den Wissenschaftlern, durch starke Magnetfelder Bereiche des Gehirns anzuregen, ohne dass dazu ein direkter Eingriff in dieses hochempfindliche Organ notwendig ist.

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„Die in völlig entspanntem Zustand magnetisch ausgelösten Fingerbewegungen, wiesen Merkmale auf, die direkt mit den langjährig trainierten Fingerbewegungen verbunden waren“, erläutert Claßen. Erklären lässt sich das nach Ansicht der Forscher dadurch, dass die entsprechenden Fähigkeiten im Gehirn modular abgelegt werden.

„Die Veränderung in den Speicherbausteinen, die wir auf diese Weise sichtbar gemacht haben, ermöglicht es den Musikern, die speziellen Bewegungen bei der Ausübung ihrer Musik mit größerer Leichtigkeit, Präzision und Geschmeidigkeit auszuführen“, meint Claßen.

Speicherbausteine des Gehirns

Allerdings ist ihm zufolge auch klar, dass sich Speicherbausteine des Gehirns bei besonders schwierigen Leistungen nur allmählich und nach sehr langem Training verändern. „Die von uns untersuchten Musiker hatten viele Jahre täglich geübt, brachten bis zu 10.000 Trainingsstunden mit.“

Das entdeckte Arbeitsprinzip der Gehirns gilt nach Ansicht der Wissenschaftler wahrscheinlich nicht nur für die Bewegungen beim Musikmachen und für hochspezialisierte Musiker, sondern ist auch für andere Menschen und andere motorische Fähigkeiten gültig: „Wir hätten auch Sekretärinnen, die täglich tausende Tastenanschläge machen, oder Chirurgen, die mit hoher manueller Geschicklichkeit komplexe Eingriffe am menschlichen Körper ausführen, untersuchen können“, sagt der Neurologe.

Denn auch sie können ihre über lange Zeiträume einstudierten Bewegungen mühelos wiederholen. Ihr Gehirn kann durch die Speicherung von immer wiederkehrenden Abläufen in Bausteinen wertvolle Zeit und Energie sparen und damit verhindern, dass es jedes Mal von vorne mit der Analyse einer Situation beginnen muss.

Praktische Anwendungen möglich

Auch wenn derzeit noch nicht an eine Umsetzung der Erkenntnisse der Forscher zu denken ist, so hält es Claßen für durchaus möglich, dass es zu sehr praktischen Anwendungen kommen kann. „Auch Schlaganfallpatienten werden hoffentlich von unseren Erkenntnissen profitieren“, sagt er.

Claßen erwartet, dass Trainingsprogramme für Schlaganfallpatienten verbessert werden können, indem die Bildung von Modulen unterstützt wird. Und seine Vision geht sogar noch weiter: „Auch perzeptuelle Vorgänge wie etwa unsere visuelle Wahrnehmung wird vermutlich durch solche Speicherprozesse im Gehirn vereinfacht. Wir können uns vorstellen, dass sie wirksam sind, wenn ein Kind zum Beispiel erst lernt, einen Hund von einer Kuh zu unterscheiden, dann auch Hund und Katze und irgendwann sogar Hunderassen voneinander trennen kann.“

Vielleicht wird es – so die Hoffnung der Forscher – auch einmal möglich sein, durch magnetische Stimulation des Gehirns Menschen zu helfen, die durch Krankheit oder Unfall lange geübte Fähigkeiten eingebüßt haben, indem man sich die Regelhaftigkeit der im Gehirn dauerhaft abgespeicherten Fähigkeiten zu Nutze macht. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.

(idw – Universität Leipzig, 27.10.2010 – DLO)

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