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Neurobiologie

Gehirn arbeitet wie Supercomputer

Parallele Verarbeitung von Bewegungsinformationen nachgewiesen

Bei der Wahrnehmung von Bewegungen spielen Erregung und Hemmung von Hirnnervenzellen eine große Rolle. Indem sie die hemmenden Mechanismen einzelner Neuronen ausschalteten, haben Biologen der Ruhruni Bochum herausgefunden, dass in der Großhirnrinde nicht wie angenommen die Bewegungen nach Richtungen vorsortiert werden, um dann im Bewegungszentrum des Gehirns nur noch weiterverarbeitet zu werden. Etwa die Hälfte der Zellen im Bewegungszentrum werden mit unsortierten Bewegungsinformationen versorgt, die sie dann selbst sortieren.

Großer Verschiebebahnhof des Gehirns

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Die Wahrnehmung von Bewegung ist eine entscheidende Funktion unseres Sehsystems. Sie ist immer dann wichtig, wenn wir in uns in unserer Umwelt bewegen, oder wenn andere Lebewesen oder Objekte sich um uns herum bewegen. In der Großhirnrinde von Primaten finden sich die ersten Zellen, die selektiv auf Bewegungsrichtungen antworten im primären visuellen Kortex: Bestimmte Zellen „feuern“ zum Beispiel nur bei Bewegungen nach links. Dieser Teil des Gehirns ist vergleichbar mit einem Verschiebebahnhof: Alle Güter, die in die verschiedenen Fabriken einer Metropole sollen, müssen diesen Flaschenhals passieren und werden hier umgeladen. Die Güter repräsentieren die unterschiedliche visuelle Information, während die Fabriken Gebiete im Großhirn darstellen, die darauf spezialisiert sind, bestimmte Aspekte der visuellen Information weiter zu verarbeiten.

„Spezialisten“ verarbeiten Informationen weiter

Bisher ging man davon aus, dass bereits extrahierte Information über Bewegung vom primären visuellen Kortex an die ‚Spezialisten‘ im Bewegungszentrum des Großhirns weitergeleitet wird, die Bewegungsinformation also nach Richtung vorsortiert wird. Bestimmte Zellen im Bewegungszentrum des Großhirns würden dann also zum Beispiel nur Informationen über Bewegungen nach links erhalten und daraus komplexere Zusammenhänge herausfiltern, etwa Eigenbewegung oder die Richtung von Fremdbewegungen, wie Beute oder Feind.

Vorsortiert oder selbst selektiert?

Diese Annahme hat die Forschergruppe um Prof. Hoffmann nun gezielt geprüft, indem sie das Gleichgewicht von Hemmung und Erregung im Bewegungszentrum von Affen manipulierten: Bestimmte Botenstoffe animieren Nervenzellen dazu, elektrische Impulse weiterzugeben (Erregung), andere verhindern das (Hemmung). Die Forscher nahmen Zellen im Bewegungszentrum unter die Lupe, die normalerweise nur bei Bewegungsinformationen in einer bestimmten Richtung aktiv werden. Die Frage war, ob sie nur diese Informationen bekommen oder ob sie selbst entscheiden, nur bei diesen zu feuern. Die Forscher gaben einen Wirkstoff, der die Hemmung aufhebt, auf einzelne solcher Nervenzellen im Gehirn und beobachteten ihre Aktivität.

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Überraschung: „Spezialisten“ sortieren selbst

Überraschenderweise feuerten die Zellen nun nicht mehr nur bei Bewegungen in eine bestimmte Richtung, sondern bei allen Bewegungsrichtungen – ein Beleg dafür, dass sie mit all diesen Informationen versorgt werden und selbst in der Lage sind, zwischen Bewegungsrichtungen zu unterscheiden. „Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Eingangsinformation in das bewegungsspezifische Hirnareal anders als bisher angenommen zum Teil unselektiv ist. Die Arbeitsteilung im Großhirn ist vermutlich erheblich weitreichender, und die Hierarchie zwischen den verschiedenen Hirnarealen weniger ausgeprägt als bisher angenommen“, fasst Prof. Hoffmann zusammen. „Das zeigt erneut, dass Informationsverarbeitung im Gehirn wie in modernen Großrechnern in hohem Maße parallel abläuft.“ Dadurch gewinnt das Gehirn wahrscheinlich mehr Sicherheit bei der Informationsverarbeitung – es arbeitet mit Netz und doppeltem Boden.

Hemmung hilft Helligkeit auszugleichen

Darüber hinaus erlaubte die Manipulation von Erregung und Hemmung, die Mechanismen zu untersuchen, die die Selektivität von Nervenzellen unabhängig von der Umgebungshelligkeit machen: Auch bei starker Helligkeit funktioniert die Informationsverarbeitung genauso gut wie bei normaler Beleuchtung oder Dämmerung, es kommt zu keiner Übererregung. Theoretische Überlegungen gehen davon aus, dass entweder hemmende Mechanismen zu dieser sog. Kontrast-Normierung beitragen, oder schnell einsetzende Ermüdungserscheinungen bei der Informationsübertragung. Die Gruppe um Prof. Hoffmann zeigte, dass Hemmung den wesentlichen Beitrag zur Kontrast-Normierung leistet und wir deshalb Bewegungsrichtungen und Geschwindigkeiten auch bei schnell wechselnden Beleuchtungsbedingungen richtig einschätzen können.

Über ihre Erkenntnisse berichten die Forscher im hochrangigen Wissenschaftsmagazin PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA).

(idw – Ruhr-Universität Bochum, 23.06.2004 – DLO)

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