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Neurobiologie

Frühgeburt hinterlässt Spuren im Kleinhirn

Frühchen-Gehirn versucht unterbrochene Entwicklung auf zellulärer Ebene zu kompensieren

Frühgeborene sind bei der Geburt noch nicht vollständig entwickelt. © Photodisc-rbma/ iStock.com

Frühchen ins Gehirn geblickt: Das Kleinhirn von zu früh geborenen Babys unterscheidet sich auch zum Zeitpunkt des eigentlich errechneten Geburtstermins noch deutlich von dem Normalgeborener. Bestimmte Stoffwechselprodukte deuten auf eine geringere Integrität der Nervenzellen bei den Frühchen hin, wie Forscher nun berichten. Gleichzeitig zeigt sich aber auch: Das Gehirn versucht diese Defizite offenbar aktiv zu kompensieren.

Wenn Babys mehrere Wochen zu früh das Licht der Welt erblicken, ist ihr Körper auf das Leben da draußen noch nicht vorbereitet: Frühchen wirken kleiner und zerbrechlicher als Normalgeborene und können oftmals noch nicht selbständig atmen oder trinken. Auch ihr Gehirn ist in der Regel noch unreif.

Diese Defizite zum Geburtszeitpunkt wirken auch im späteren Leben der Kinder nach. Studien zeigen, dass Frühgeborene anfälliger für bestimmte Krankheiten sein können, häufiger bei der motorischen Entwicklung hinterherhinken und beim Lernen in der Schule langsamer sind als gleichaltrige Klassenkameraden.

Unterschiede im Kleinhirn

Die typischen Defizite in der kognitiven Entwicklung führen Wissenschaftler unter anderem auf Veränderungen im Großhirn zurück. Diese Region des Gehirns ist zum Beispiel für Sprache, Logik, Orientierung und Erinnerungsvermögen wichtig. „Die Rolle des Kleinhirns wurde in der Forschung bisher dagegen kaum untersucht“, schreiben Catherine Limperopoulos vom Children’s National Health System in Washington DC und ihre Kollegen.

Die Forscher haben sich deshalb nun genau diesem Teil des Gehirns gewidmet, der vor allem für die Koordination von Bewegungen und für die Feinmotorik eine Rolle spielt. Mithilfe einer Form der Magnetresonanzspektroskopie, die die Konzentration bestimmter Moleküle im Gehirn darstellen kann, untersuchten sie dafür 61 gesunde, zum normalen Termin geborene Babys und 59 Kinder, die in der 32. Schwangerschaftswoche oder früher geboren worden waren.

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Geringere Zellintegrität

Bei den Normalgeborenen führten die Wissenschaftler die Untersuchung kurz nach der Geburt durch, bei den Frühchen dagegen erst um den Zeitpunkt des errechneten Geburtstermins herum. Würde der Blick ins Kleinhirn der Babys trotzdem noch Unterschiede offenbaren?

Das Ergebnis zeigte: Frühgeborene hatten eine signifikant geringere Konzentration der Aminosäure N-Acetyl-Aspartat im Cerebellum – ein Stoffwechselprodukt, das als chemischer Marker für die Integrität der Nervenzellen gilt. Ihre Neuronen scheinen in ihrer Funktionsweise demnach noch beeinträchtigt und insgesamt weniger robust und anfälliger zu sein als diejenigen von Normalgeborenen.

Kompensationsversuche des Gehirns

Gleichzeitig stellten die Forscher jedoch fest, dass die Frühchen deutliche höhere Konzentrationen des Moleküls Cholin im Kleinhirn hatten. Dieser Marker deutet daraufhin, dass der Stoffwechsel und das Wachstum der Zellen auf Hochtouren läuft und die „Recycling-Fabrik“ im Gehirn der Kinder übermäßig aktiv ist. Dadurch werden zum Beispiel zerstörte Zellbestandteile wie Membranen überraschend schnell abgebaut und durch neue ersetzt.

„Diese Daten legen nahe, dass eine abrupte Unterbrechung des normalen Entwicklungs- und Wachstumsplans des Gehirns, wie sie durch eine verfrühte Geburt oder Infektionen passieren kann, bei den betroffenen Babys eine Art Kompensationsmechanismus auslöst“, sagt Limperopoulos. „Das kindliche Gehirn versucht Defizite auszugleichen, indem es bestimmte Zellen schneller produziert als normalerweise üblich.“

„So normal wie möglich“

Die festgestellten Unterschiede belegen, dass eine frühe Geburt in den Zellen des Kleinhirns deutliche Spuren auf biochemischer Ebene hinterlässt. Es sei nun weitere Forschung nötig, um diese Ergebnisse besser deuten zu können und sie in einen Kontext mit den Prozessen zu bringen, die über die Entwicklung von Frühgeborenen bereits bekannt sind, betonen die Wissenschaftler.

„Die große Herausforderung für uns als Mediziner ist, sicherzustellen, dass das Gehirn von Frühchen die Möglichkeit bekommt, sich so normal wie möglich zu entwickeln“, sagt Limperopoulos. Sie hofft, dass die neuen Erkenntnisse eines Tages zu Behandlungsansätzen führen, die die Gehirnentwicklung zu früh geborener Babys wieder auf die richtige Bahn lenken und Langzeiteinschränkungen vorbeugen können. (Scientific Reports, 2017; doi: 10.1038/s41598-017-08195-4)

(Children’s National Health System, 16.08.2017 – DAL)

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