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Medizin

Früh eingeschulte Kinder erhalten oft fälschlich ADHS-Diagnose

Unreiferes Verhalten wird als krankhaft interpretiert

Bei früh eingeschulten Kindern wird besonders häufig ADHS diagnostiziert und behandelt. Ihr im Verhältnis zu ihren älteren Klassenkameraden unreiferes Verhalten wird dabei irrtümlich als krankhafte Aufmerksamkeitsstörung interpretiert. Das haben kanadische Forscher in einer Studie mit fast einer Million Grundschulkindern herausgefunden. Besonders hoch sei das Risiko für Fehldiagnose und falsche Behandlung bei Kindern, die kurz vor dem Stichtag für das Einschulungsalter Geburtstag hatten. Sie seien typischerweise die jüngsten und unreifsten ihrer Klasse, berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin „Canadian Medical Association Journal“.

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„Unsere Analysen bestätigen die Befürchtungen, dass die normale Spannbreite des Verhaltens von Kindern zunehmend medikalisiert wird“, sagt Erstautor Richard Morrow von der University of British Columbia in Vancouver. Jüngere Kinder einer Klasse würden aufgrund ihres alterstypischen Verhaltens häufig falsch etikettiert und behandelt. Die Studie zeigte, dass solche Kinder um 39 Prozent wahrscheinlicher mit ADHS diagnostiziert und sogar zu 48 Prozent eher mit Medikamenten behandelt werden.

Forscher warnen vor den Folgen einer vorschnellen Diagnose

Angesichts dieser Zahlen warnen die Forscher davor, Kinder unnötig den potenziellen Schäden und Langzeitfolgen einer Fehldiagnose und medikamentösen Behandlung auszusetzen. Denn Mittel gegen ADHS wie beispielsweise Methylphenidat können sich negativ auf den Appetit, das Wachstum und den Schlaf der Kinder auswirken. Auch das Risiko für spätere Herz-Kreislauf-Erkrankungen sei erhöht, sagen die Wissenschaftler. Außerdem würden Eltern und Lehrer sich gegenüber ADHS-Kindern häufig anders verhalten. Das wiederum könnte zu psychischen Folgen wie einem schlechten Selbstwertgefühl bei den Kindern führen.

„Diese Studie wirft Fragen für Ärzte, Lehrer und Eltern auf, wir müssen uns fragen, was sich ändern muss“, sagt die Psychiaterin Jane Garland, Mitautorin der Studie von der University of British Columbia. Man müsse zukünftig stärker auf das relative Alter der Kinder achten und auch mehr ihr Verhalten außerhalb der Schule für die Einschulungstests in Betracht ziehen.

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Fast eine Million Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren untersucht

Für ihre Studie hatten die Forscher Daten von 937.943 Kindern im Alter von sechs bis zwölf Jahren ausgewertet und den gesundheitlichen Werdegang dieser Kinder über elf Jahre hinweg verfolgt. Alle Kinder wurden in der kanadischen Provinz British Columbia eingeschult, wo der Stichtag für die Einschulung am 31. Dezember liegt. Kinder, die kurz vor diesem Datum Geburtstag haben, dürfen im Folgejahr in die erste Klasse gehen, Kinder, die erst Anfang Januar geboren sind, müssen ein Jahr warten. In Deutschland ist der Stichtag je nach Bundesland verschieden, liegt aber bei den meisten im Sommer.

Der Effekt des relativen Alters auf die ADHS-Diagnosen sei in der gesamten Studienzeit und bei Kindern aller untersuchten Altersklassen zu beobachten gewesen, sagen die Forscher. Immer seien die im Dezember geborenen Kinder stärker betroffen gewesen als die im Januar geborenen und daher später eingeschulten. Das gelte sowohl für Mädchen als auch für Jungen, obwohl Jungen insgesamt bis zu drei Mal häufiger mit der Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert und entsprechend behandelt werden.

Warum sind Jungen stärker betroffen?

Warum Jungen stärker betroffen sind, ist noch nicht eindeutig geklärt. Vermutungen einiger Forscher nach könnte dies aber an der leicht unterschiedlichen Ausprägung der Symptome bei beiden Geschlechtern liegen: Jungen mit ADHS werden oft durch Hyperaktivität und impulsives Verhalten auffällig, bei Mädchen äußert sich die Aufmerksamkeitsstörung häufiger durch Verträumtheit und Unkonzentriertheit – und wird daher möglicherweise seltener erkannt. (Canadian Medical Association Journal, 2012; doi:10.1503/cmaj.111619)

(Canadian Medical Association Journal / dapd, 07.03.2012 – NPO)

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