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Neurobiologie

Es gibt verschiedene Arten von Legasthenie

Probleme beim Lesen und Rechtschreiben können unabhängig voneinander vorkommen

Lese- und Rechtschreibschwächen können auch unabhängig voneinander auftreten © Pixabay/ Uni Graz

Entscheidende Unterschiede: Eine Legasthenie muss nicht immer Lesen und Schreiben eines Kindes betreffen – es gibt auch Fälle, in denen nur eine der beiden Fähigkeiten betroffen sind. Was dahintersteckt, haben nun Forscher näher untersucht. Ihr Ergebnis widerlegt die Theorie, dass alle Formen der Legasthenie gleichermaßen auf Problemen im Abgleich und Aufbau unseres internen Orthografie-Lexikons im Gehirn beruhen.

Im Schnitt ein bis zwei Kinder pro Schulklasse leiden heute unter einer Legasthenie – einer Lese-Rechtschreibschwäche. Betroffene Kinder haben Probleme, Texte zu lesen und zu schreiben, aber auch beim visuellen Erkennen von Symbolen und dem Hören und Verstehen von Sprache. Studien zeigen zudem Unterschiede in der Reizverarbeitung des Gehirns und Genveränderungen bei Legasthenikern.

Lexikon im Gehirn

Bisher ging man davon aus, dass die Probleme beim Lesen und beim Schreiben bei der Legasthenie immer gemeinsam auftreten. Denn nach gängiger Theorie basieren beide Fähigkeiten auf einem gemeinsamen orthografischen Lexikon im Gehirn, das alles Wissen über ein Wort und seine Bedeutung und Schreibweise zusammenfasst. Beim Lesen wird das Gesehene mit diesem Lexikon abgeglichen, beim Schreiben wird die korrekte Schreibweise abgerufen.

„Das Lesen galt jedoch bisher als einfacher und weniger aufwändig für das Gehirn“, erklären Melanie Gangl von der Universität Graz und ihre Kollegen. Denn dafür reicht es, grob den Wortlaut eines Wortes zu erfassen, während für das Schreiben die genaue Buchstabenfolge bekannt sein muss. „Isolierte Defizite bei der Rechtschreibung trotz adäquater Lesefähigkeiten sind schon länger bekannt“, so die Forscher.

Schreiben gut, Lesen mangelhaft

Doch wie die Forscher nun herausgefunden haben, gibt es auch den umgekehrten Fall: „Wir fanden es spannend, dass es Kinder gibt, die wissen wie man Wörter schreibt, sich aber dennoch mit dem Lesen abmühen“, sagt Koautorin Karin Landerl von der Universität Graz. Für ihre Studie hatten sich die Forscher Gehirnfunktion und Verhalten bei der Schriftsprach-Verarbeitung genau angesehen

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Beispielzeile aus einem Lesetest mit richtigen und falsch geschriebenen Wörtern. Die türkisfarbenen Kreise zeigen die Blickdauer der Kinder an. © Karin Landerl/ Uni Graz

Sie untersuchten und verglichen 137 Kinder der dritten und vierten Klasse, von denen 43 normale Lese- und Schreibfähigkeiten besaßen, 28 hatten eine „klassische“ Legasthenie mit Lese und Rechtschreibschwäche, weitere jeweils 28 Kinder hatten nur Probleme mit einer der beiden Fertigkeiten. Während der Versuche absolvierten die Kinder standardisierte Tests, während die Forscher ihre Augenbewegungen erfassten und ihre Hirnaktivität mittels Elektroenzephalogramm (EEG) und Magnetresonanz-Tomografie aufzeichneten.

Deutliche Unterschiede

Das überraschende Ergebnis: Entgegen den Erwartungen fanden die Forscher keine Anzeichen dafür, dass Kinder mit isolierter Rechtschreibschwäche anders lesen als ihre normal entwickelten Altersgenossen. Ihre Augenbewegungen verrieten, dass auch sie die Wörter mithilfe ihres internen „Lexikons“ identifizierten. „Das zeigt, dass Schreib-Defizite nicht notwendigerweise mit Rückgriffen auf primitivere Dekodierungsstrategien beim Lesen verknüpft sind“, so die Forscher.

Umgekehrt zeigte sich: Kinder mit isolierter Leseschwäche fixierten die Wörter zwar länger und „scannten“ die Wörter häufiger mehrfach. Dennoch gab es auch bei ihnen keine Hinweise auf eine Silbe-für-Silbe-Dekodierung ohne Abgleich mit dem internen Lexikon. „Die Annahme, dass die Kinder in dieser Leseanfänger-Strategie steckenbleiben, lässt sich nicht halten. Auch leseschwache Kinder bauen ein Schriftwortlexikon auf, nützen es aber nicht sehr gut“, sagt Landerl.

Die Leseprobleme dieser Kinder führen die Forscher daher nicht auf Abgleichprobleme mit dem orthografischen Lexikon im Gehirn zurück, sondern eher auf Verzögerungen in der Verarbeitung visueller Informationen.

Beides muss beim Kind getestet…

Nach Ansicht der Wissenschaftler bestätigen diese Ergebnisse, dass es deutliche Unterschiede zwischen Kindern mit einer kombinierten Lese-Rechtschreibschwäche gibt und denen, bei denen nur eine der beiden Fähigkeiten betroffen ist. Während hinter der kombinierten Schwäche durchaus Defizite beim internen Lexikon und seinem Abrufen stecken, scheint dies bei Kindern mit nur Lese- oder nur Schreibproblemen weniger Fall zu sein.

„Wenn man die schriftsprachlichen Leistungen eines Kindes feststellen will, muss man daher immer beides anschauen“, betont Landerl. „Wenn nur ein Rechtschreibtest durchgeführt wird, könnte eine isolierte Leseschwäche übersehen werden.“ Gerade eine Leseschwäche aber kann zu einem enormen Handicap werden: „Schlechte Rechtschreibung ist kein Weltuntergang. Da helfen heute Korrekturprogramme. Wenn man aber nicht lesen kann, beeinträchtigt das Lebens- und Berufschancen massiv“, so Landerl.

…und gefördert werden

Für die Förderung betroffener Kinder gelte dabei ganz generell: Training hilft am besten. Lesen wird durch Lesen besser und Rechtschreibung durch Rechtschreiben. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, die Motivation aufrecht zu erhalten und die Kinder bei der Stange zu halten mit ansprechenden Förderstunden, damit sie im eigenen Tempo den Weg in die Schriftsprache finden. (Journal of Experimental Child Psychology, 2018; doi: 10.1016/j.jecp.2018.05.012)

(FWF – Der Wissenschaftsfonds, 16.07.2018 – NPO)

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