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Neurobiologie

Erste vollständige Rekonstruktion eines Netzhautstücks gelungen

3D- Landkarte der Netzhaut zeigt alle Nervenzellen und ihre Verschaltungen bis ins kleinste Detail

Zehn rekonstruierte Nervenzellen in einem Block mit 950 Neuronen aus der Retina, aufgenommen mit "serial block-face"-Elektronenmikroskopie (rot: Ganglionzellen; grün: Amakrinzellen; blau: Bipolarzellen). © MPI für medizinische Forschung / Isensee & Kuhl

Wie funktioniert die Netzhaut im Detail? Wissenschaftler sind dieser Frage nachgegangen – und haben erstmals ein exaktes 3D-Modell aller Nervenzellen samt ihrer Verbindungen in einem winzigen Stück Maus-Netzhaut erstellt. Bereits dieser kleine Einblick brachte sowohl einen neuen Zelltyp ans Licht, als auch Verschaltungen, die bestimmte Reaktionen einzelner Netzhautzellen erklären könnten. Die Forscher berichten darüber in der Fachzeitschrift „Nature“.

Die Netzhaut wandelt nicht einfach nur Bilder in elektrische Signale um, sondern trennt und filtert die Bildinformationen vor der Weitergabe an das Gehirn. Entsprechend komplex ist das Netzwerk der Nervenzellen – und es kommt auf die Verbindungsstellen an. Diese sind zahlreich und unübersichtlich und waren daher lange Zeit recht unzugänglich für die Wissenschaft. Mit Hilfe moderner computergestützter Analysen haben sich allerdings auch hier Welten geöffnet: Die Forscher der Max-Planck-Institute für medizinische Forschung in Heidelberg und für Neurobiologie in Martinsried bei München berichten nun von einem großen ersten Schritt, der ihnen zusammen mit ihren Kollegen aus den USA gelungen ist.

Über 20.000 Arbeitsstunden waren nötig

„Wir brauchten ungefähr einen Monat um die Daten zu gewinnen und vier Jahre um sie zu analysieren“ sagt Moritz Helmstaedter, Erstautor der Studie und mittlerweile Leiter einer eigenen Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Neurobiologie. Ein Grund dafür ist die extrem aufwändige Analyse der elektronenmikroskopischen Bilder des Hirngewebes: Die hauchdünnen Fortsätze der Nervenzellen müssen über lange Strecken verfolgt und Verbindungen zwischen ihnen erkannt werden. Heutige Computeralgorithmen sind für diese Aufgabe zwar sehr hilfreich, an vielen Stellen aber doch zu unzuverlässig. Daher müssen immer noch Menschen Entscheidungen über reale und falsche Abzweigungen in den neuronalen „Drähten“ fällen. In der nun publizierten Arbeit verschlangen allein diese Entscheidungen rund 20.000 menschliche Arbeitsstunden. Um mit denselben Methoden die Verdrahtung eines ganzen Mäusegehirns zu entschlüsseln, wären mehrere Milliarden Arbeitsstunden nötig.

Obwohl der Netzhautwürfel gerade einmal einen Zehntel Millimeter Kantenlänge hatte, kamen darin knapp 1.000 Nervenzellen mit rund einer halben Million Verbindungen vor. Den Wissenschaftlern ist es gelungen, alle Nervenzellen und Verbindungen aus diesem Stück Mäusenetzhaut zu kartieren – also in einer Art Landkarte darzustellen. Dabei stießen die Wissenschaftler auch auf einen bislang unbekannten Zelltyp. Dieser konnte zwar der Klasse der Bipolarzellen zugeordnet werden, die Funktion ist zurzeit aber noch unklar.

Rekonstruktion von 950 Nervenzellen und ihrer Verbindungen in einem Stück Netzhaut einer Maus. Die Daten wurden mit dem "serial block-face" Elektronenmikroskop (graue Blöcke) gewonnen und mit Hilfe von 200 Studenten analysiert. © MPI für medizinische Forschung / Isensee & Kuhl

Die erstellte „Landkarte“ der Netzhaut zeigt außerdem Verschaltungsmuster, die erklären können, warum manche Zellen auf eine ganz bestimmte Art auf Reize reagieren. „Die Ergebnisse zeigen uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind, obwohl wir mit dieser Arbeit gerade einmal 0,1 Prozent der Netzhaut einer Maus analysiert haben“, so Helmstaedter. Wie viele andere Neurobiologen ist er davon überzeugt, dass die Entschlüsselung des Connectoms – also der Gesamtheit aller Verbindungen – die Hirnforschung revolutionieren wird.

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Vollständige Gehirnlandkarte als Ziel

„Unser Ziel ist es, das ganze Connectom eines Mäusegehirns zu analysieren und zu verstehen“, sagt Max-Planck-Forscher Winfried Denk. Wie realistisch ist ein solch ehrgeiziges Ziel, wenn die Analyse des winzigen Netzhautstücks bereits vier Jahre gedauert hat? Ein ganzes Gehirn ist 200.000- mal größer. Denk ist zuversichtlich: „Ich bin davon überzeugt, dass wir den automatisierten Prozess, den wir auch für das Netzhautstück verwendet haben – das „serial block-face“ Elektronenmikroskop – so einrichten können, dass man damit ein ganzes Mäusegehirn dreidimensional abbilden kann. Auch wenn wir dazu ein oder zwei Jahre durchgehend Daten aufnehmen müssen.“ Er merkt jedoch an, dass es im Moment noch keine realistische Analysemethode für die Daten gibt. „Außer, es gibt uns jemand die zig Milliarden Euro um die menschlichen Arbeitsstunden zu bezahlen.“

Helmstaedter hat für dieses Problem schon eine Idee – er setzt mit seiner Forschungsgruppe auf die Hilfe der Internetgemeinde: „Noch in diesem Jahr wollen wir mit dem Spiel Brainflight online gehen, in dem Internetnutzer auf der ganzen Welt Nervenbahnen nachfliegen und Punkte sammeln können. Gleichzeitig sagen uns ihre Entscheidungen etwas über die realen Verbindungen zwischen Nervenzellen.“ Heutige Algorithmen basieren oft auf maschinellem Lernen und werden daher immer besser, je mehr sie mit Trainingsdaten gefüttert werden. Die Daten der Internetspieler helfen somit auch bei der Entwicklung besserer Algorithmen für die computergestützte Datenanalyse.

(Max-Planck-Institute für medizinische Forschung und Neurobiologie, 08.08.2013 – SEN)

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