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Archäologie

Erste Felskunst vom Neandertaler

Gekreuzte Linien im Stein sind erster Beleg für Kunst und abstraktes Denken des Eiszeitmenschen

Felsritzung des Neandertalers aus der Gorham-Höhle in Gibraltar © Stuart Finlayson

Kreuze im Stein: Auf Gibraltar haben Forscher den ersten Beleg für Felskunst des Neandertalers entdeckt. Die tiefen, in Stein eingeritzten Linien zeugen davon, dass auch der Eiszeitmensch bereits abstrakt denken konnte und seine Gedanken in Form von Symbolen ausdrückte, konstatieren die Wissenschaftler im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“. Bisher hatte man dies dem Neandertaler nicht zugetraut.

Kunst, Schmuck und die Nutzung von Symbolen gelten als entscheidender Schritt in der geistigen Entwicklung des Menschen. Lange allerdings hielt man den vor rund 40.000 Jahren ausgestorbenen Neandertaler für zu primitiv, um diese Form abstrakter Darstellungen zu nutzen. Gestützt wurde dies dadurch, dass die frühesten Beispiele von Felsmalereien und Ritzzeichnungen in Europa erst durch den eingewanderten Homo sapiens, unsre Vorfahren, geschaffen wurden – so dachte man jedenfalls bisher.

Überlagerte Kreuze auf einem Steintisch

Doch ein Fund in der Gorham-Höhle in Gibraltar hat die Anthropologen nun eines Besseren belehrt. Die an der Ostküste Gibraltar gelegene Höhle diente wahrscheinlich über Jahrtausende den Neandertalern als Schutz und Lagerplatz, wie urzeitliche Knochen, Werkzeuge und Nahrungsreste belegen. Im hinteren Teil der Höhle stießen Joaquín Rodríguez-Vidal von der Universität von Huelva und seine Kollegen nun auf ein äußerst ungewöhnlich Relikt: eine Felsgravur.

Die Gravur befindet sich auf einer etwa 40 Zentimeter hohen, tischähnlichen Erhebung aus dem Höhlenboden. In der flachen, verbreiterten Oberseite sind acht tief eingeritzte Linien zu erkennen, die ein Muster aus sich überlagernden Kreuzen bilden. Die längste Linie ist dabei rund 15 Zentimeter lang.

Schema der in Fels geritzten, gekreuzten Linien © Rodríguez-Vidal et al./ PNAS

Neandertaler als Urheber

Um auszuschließen, dass die Einkerbungen durch natürliche Prozesse entstanden, führten die Forscher Vergleichsuntersuchungen durch. Sie ritzten dazu mit verschiedenen Materialien ähnliche Strukturen in den Fels und verglichen die Ergebnisse mit dem Original. Die Analysen belegten: Es handelt sich nicht um natürliche Felsrisse und es erscheint auch unwahrscheinlich, dass die Linien ein zufälliges Beiprodukt einer profanen Tätigkeit waren, wie beispielsweise durch die Bearbeitung von Nahrung.

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Wer aber schuf diese Felskunst? Wie die Forscher berichten, war die Platte mit den Ritzungen durch eine ungestörte ununterbrochene Schicht von Ablagerungen überdeckt. Diese aber wurde auf ein Alter von rund 39.000 Jahren datiert und enthielt zudem Relikte, die eindeutig von den Neandertalern stammen. Nach Ansicht der Forscher macht es dies sehr unwahrscheinlich, dass der moderne Mensch diese Spuren hinterließ. „Der Homo sapiens war zu dieser Zeit zwar schon in Westeuropa präsent, hatte aber das Südende der Iberischen Halbinsel noch nicht erreicht“, merken die Forscher an.

Eingang zur Gorham-Höhle in Gibraltar © Clive Finlayson

Nur abgeschaut?

Theoretisch bestünde allerdings die Möglichkeit, dass sich die Neandertaler diese Form der Kunst oder Rituellen Ritzungen von unseren eingewanderten Vorfahren abgeschaut haben. Immerhin vermutet man Ähnliches für Schmuckstücke aus Elfenbein und Knochen, die in der Grotte de Renne in Frankreich gefunden wurden. Diese 35.500 bis 41.000 Jahre alten Anhänger, Ringe und Spangen sollen zwar von Neandertalern hergestellt worden sein, ihre Machart könnten sich die Eiszeitmenschen aber von den in der Nähe lebenden modernen Menschen kopiert haben.

Doch im Falle der Ritzungen von Gibraltar halten Rodríguez-Vidal und seine Kollegen ein Abgucken für eher unwahrscheinlich. „Die aus Deutschland und Frankreich bekannten Darstellungen der Aurignacien-Kultur sind jünger als die Ritzungen der Gorham-Höhle und haben keinerlei Ähnlichkeit damit“, konstatieren sie. „Die spricht dagegen, dass die Neandertaler dieses Design unter dem kulturellen Einfluss des Homo sapiens ausführten.“ Stattdessen deute alles darauf hin, dass die Neandertaler unabhängig von unseren Vorfahren diese Form der symbolischen Darstellungen entwickelten.

Beleg für abstraktes Denken und Intelligenz

Welche Bedeutung diese eingeritzten Kreuze hatten, darüber lässt sich allerdings nur spekulieren. War es ein Symbol, ein kultisches Zeichen oder nur eine Spielerei? Was den Neandertalern einst im Zusammenhang mit diesem Zeichen durch den Kopf ging, wird vermutlich immer ein Geheimnis bleiben. Doch klar ist: Der aktuelle Fund zeigt einmal mehr, dass die frühere Sicht des Neandertalers als einer primitiven, eher tumben Nebenlinie der Menschheit falsch ist.

„Diese Entdeckung demonstriert die Fähigkeit der Neandertaler, abstrakt zu denken und diese Gedanken durch geometrische Formen auszudrücken“, konstatieren die Forscher. Sie könnten daher nicht weniger intelligent und geschickt gewesen sein wie unsere Vorfahren. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2024; doi: 10.1073/pnas.1411529111)

(PNAS, 02.09.2014 – NPO)

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