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Evolution

Cyanobakterien als Seefahrer

Phytoplankton-Vorfahren besiedelten das offene Meer mittels Chitin-Flößen

Cyanobakterien auf hoher See
Ozean in Sicht! Frühe Picocyanobakterien nutzten wahrscheinlich Chitin-Flöße, um aufs offene Meer zu gelangen und sich dort anzusiedeln. © Jose-Luis Olivares/MIT

Mikrobe ahoi: Die Vorfahren vieler heute im Ozean allgegenwärtigen Cyanobakterien könnten vor über 500 Millionen Jahren auf Chitin-Partikeln aufs offene Meer hinausgefahren sein und den Lebensraum von dort besiedelt haben. Darauf deuten Gene für den Chitinabbau im Erbgut einiger Stämme hin. Deren frühe Vorfahren hafteten sich vermutlich an Chitin-Flocken aus den Exoskeletten von Gliederfüßern und nutzten diese als Floß und Nahrungsquelle. Im Laufe der Generationen passten sich die Bakterien dann ans Leben im offenen Meer an und ließen die Schiffchen hinter sich.

Der Sauerstoff, den wir einatmen, stammt mindestens zur Hälfte aus den Weltmeeren. Dort betreibt mikroskopisch kleines Phytoplankton zu Abermilliarden Photosynthese. Die zahlenmäßig größte Untergruppe des Phytoplanktons sind die sogenannten Picocyanobakterien, zu denen Synechococcus- und Prochlorococcus-Mikroben gehören. Schätzungen zufolge leben in einem einzelnen Milliliter Meerwasser über 100.000 Prochlorokokken. Auf alle Weltmeere gerechnet, entspricht das der Masse von 220 Millionen Kleinwagen.

Doch Picocyanobakterien haben nicht von Anfang an im offenen Ozean gelebt. Die Vorfahren der Mikroben hielten sich wahrscheinlich im ufernahen Flachwasser auf, wo sie sich in mikrobiellen Matten auf dem Meeresboden zusammenschlossen. Doch wie gelang den kleinen Sauerstofffabriken dann die Umschulung zum Freischwimmer?

Ungewöhnliches Erbe als Zufallsfund

Wissenschaftlern um Giovanna Capovilla vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) ist es nun gelungen, die einstige Seereise der Picocyanobakterien nachzuzeichnen. Auf den entscheidenden Hinweis stießen sie dabei rein zufällig. Sie erforschten eigentlich gerade die Überlebensstrategien von Prochlorococcus-Stämmen, die zu weit weg vom Sonnenlicht leben, um sich via Photosynthese zu ernähren. Dabei entdeckten die Forschenden ein Gen, das die Fähigkeit kodiert, Chitin abzubauen. Das kohlenstoffreiche Material stammt aus den Panzern von Gliederfüßern wie Insekten und Krebstieren.

„Das war sehr seltsam“, kommentiert Capovilla, die diesen Zufallsfund daraufhin näher erforschte. Sie und ihr Team fanden heraus, dass das Gen in den kleinen Blaualgen tatsächlich aktiv ist. Jene Stämme, die es in sich trugen, konnten im Laborsetting Chitinpartikel als ertragreiche Nahrungsquelle abbauen. Das galt ebenso für Synechococcus-Mikroben. Doch nicht nur das: Die Picocyanobakterien hatten außerdem die Fähigkeit, sich an den Chitin-Kügelchen festzuhalten.

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Mit Chitin-Flößen aufs offene Meer

Dies lieferte den entscheidenden Hinweis: „Die Leute fragen mich immer: Wie haben diese Mikroben den frühen Ozean kolonisiert? Und als Gio diese Experimente durchführte, gab es diesen Aha-Moment“, berichtet Capovillas Kollege Rogier Braakman. Um die Küste zu verlassen, könnten sich die frühen Vorfahren von Prochlorococcus und Synechococcus an kleinen „Flößen“ aus Chitin festgehalten und diese gleichzeitig als Reiseproviant genutzt haben, so die Idee der Wissenschaftler.

Die auf dem Meer schwimmenden Chitin-Schiffchen hätten es den Mikroben erlaubt, ihre oberflächengebundene Lebensweise beizubehalten und sich parallel dazu im Laufe von Millionen von Jahren an die harscheren Lebensbedingungen des offenen Ozeans anzupassen. Und zwar so sehr, dass sie irgendwann auch ohne Floß darin überleben konnten. Capovilla und ihre Kollegen haben dieses Szenario passenderweise „Chitin-Floß-Hypothese“ getauft.

Zusätzlicher Rückhalt für die Hypothese kommt aus der stammesgeschichtlichen Rückverfolgung der Picocyanobakterien-Gene. Diese zeigt, dass die Mikroben ihre Fähigkeiten als Chitin-Abbauer genau dann erlangten, als sich chitinproduzierende Arthropoden gerade massenhaft im Ozean verbreiteten, nämlich vor 520 bis 535 Millionen Jahren. Die frühen Cyanobakterien hatten also jede Menge Chitin zur Verfügung und entwickelten parallel dazu ihre Floßbau-Fähigkeiten. Der Gedanke, dass sie diese auch einsetzten, liegt dementsprechend nah.

Frühe Flößerei veränderte den Planeten

Dass die winzigen Cyanobakterien einst die hohe See eroberten, hatte außerdem weitreichendere Auswirkungen, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Ihre gewaltige Photosynthese-Leistung in den Weltmeeren reicherte die frühe Atmosphäre mit Sauerstoff an und ermöglichte so schließlich das Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen. „Hätten Prochlorococcus und andere photosynthetische Organismen den Ozean nicht besiedelt, sähen wir heute einen ganz anderen Planeten“, so Braakman. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2023; doi: 10.1073/pnas.2213271120)

Quelle: Massachusetts Institute of Technology

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