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Neurobiologie

„Arbeitslose“ Hirnzellen suchen sich neue Jobs

Flexibilität der Großhirnrinde gibt Hinweise für Phantomschmerz-Therapie

Nervenbahnen verbinden alle Areale des menschlichen Körpers mit spezifischen Regionen im Gehirn – dem „sensomotorischen Kortex“. Diese Hirnregionenen ermöglichen es uns, Berührungen und Schmerzen zu empfinden und uns zu bewegen. Wird die Verbindung zwischen einem Körperteil und der zugehörigen Gehirnregion unterbrochen – beispielsweise durch eine Nervendurchtrennung – übernehmen die nun „arbeitslosen“ Hirnzellen unter bestimmten Umständen die Aufgaben benachbarter Hirnregionen.

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Ein Forscherteam der Universität Jena aus Psychologen, Anästhesisten und Neurologen hat nun erstmals nachgewiesen, dass die „Kortikale Plastizität“ – die Fähigkeit von Nervenzellen, sich als Anpassung auf veränderte Umweltbedingungen kurzfristig neue „Aufgaben“ anzueignen – entgegen bisheriger Annahmen schon innerhalb von wenigen Minuten erfolgen kann. Gleichzeitig konnten die Jenaer damit erstmals zeigen, dass diese Veränderungen im Hirn mit intensiveren Funktionsfähigkeiten einzelner Körperbereiche verbunden sind. Die Forscher stellen die wichtigsten Ergebnisse ihrer Studie in der aktuellen Ausgabe des „European Journal of Neuroscience“ vor.

Forscher blockieren Nerven

In der Studie simulierten die Jenaer Forscher eine Nervenblockierung: Bei Testpersonen wurden die ersten drei Finger einer Hand betäubt. Durch Messungen der Hirnströme mit Hilfe der Magnetoenzephalographie konnten die Wissenschaftler zeigen, dass innerhalb von Minuten das nun „arbeitslose“ Repräsentationsgebiet der betäubten Finger im Gehirn für ihre benachbarten Regionen tätig wurde: Bereits 30 Minuten nach der Betäubung verarbeiteten diese Hirnzellen Reize, die durch Berührungen des nicht betäubten kleinen Fingers und des Gesichts ausgelöst wurden.

Gleichzeitig wurde die Gesichtshaut nach Angaben der Forscher aber auch deutlich empfindlicher: So konnten die Probanden im Gesicht nun zwei ganz eng beieinander liegende Reize unterscheiden, die vor der Betäubung als eine einzige Berührung empfunden worden waren. Zudem kam es zu „Fehlern“ in der Übermittlung: Berührungen des kleinen Fingers wurden als Berührungen der betäubten Fingern empfunden – also quasi als ein „Phantomgefühl“. Die Mechanismen solcher Phantomgefühle ähneln stark denen bei Phantomschmerzen, die nach dem Verlust von Gliedmaßen entstehen.

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Neue Therapieformen bei Phantomschmerzen

Bisher gingen Wissenschaftler davon aus, dass solche Veränderungen der Großhirnrinde sich erst nach Wochen oder Monaten entwickeln. „Wir konnten jedoch zeigen, dass sich eine solche funktionelle kortikale Plastizität bereits nach wenigen Minuten vollziehen kann“, so Dr. Thomas Weiss aus dem Institut für Psychologie der Universität Jena. Zudem wurde erstmals nachweislich eine Steigerung der Funktionsfähigkeit anderer Körperteile – empfindlichere Gesichtshaut – als Folge der Blockierung von Nervenbahnen beobachtet.

Diese neuen Erkenntnisse könnten jetzt für veränderte Therapien in der Rehabilitation nach Unfällen und bei Behandlung von Schmerzen eingesetzt werden. „Wir wissen zwar schon länger, dass die kortikale Plastizität bei Phantomschmerzen eine wichtige Rolle spielt. Unsere Studie gibt jetzt aber Anregungen, wie wir diese Veränderungen vielleicht zur Linderung des bisher schwer therapierbaren Phantomschmerzes einsetzen können“, erklärt Koautor Dr. Winfried Meissner aus der Klinik für Anästhesiologie des Jenaer Uniklinikums.

Die Jenaer Forscher wollen jetzt Studien zur klinischen Anwendung der neuen Erkenntnisse durchzuführen.

(idw – Universität Jena, 28.01.2005 – DLO)

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