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Neurowissenschaften

Anatomie: Neue Hirnstruktur entdeckt

Zuvor unerkannte vierte Hirnhautschicht wirkt als Barriere und Immun-Stützpunkt

Hirnhautschicht
Unsere Hirnhaut umfasst vier statt wie bisher angenommen drei Schichten: Die vierte ist die neuentdeckte SLYM-Membran (grün). © Peter Kusk und Virginia Pla

Überraschender Fund: Wissenschaftler haben eine neue anatomische Struktur in unserem Schädel entdeckt – eine extrem dünne, aber potente Schutzschicht für unser Gehirn. Diese Membran bildet eine eigene, vierte Schicht unserer Hirnhaut und könnte eine zentrale Rolle für den Immunschutz und Flüssigkeitshaushalt des Gehirns spielen. Denn die SLYM getaufte Schicht enthält eigene Immunzellen und hindert größere Moleküle wie Proteine an der Passage ins Innere des Gehirns, wie die Forschenden in „Science“ berichten.

Die menschliche Anatomie wird schon seit Jahrhunderten erforscht, trotzdem birgt sie noch immer Überraschungen. Gerade in den letzten Jahren haben Wissenschaftler dank neuer bildgebender Verfahren und Analysemethoden gleich mehrere neue Strukturen in unserem Körper entdeckt. Die Spanne reicht von zuvor unerkannten Bändern und Gewebeschichten bis zu einem ganzen Netz von Lymphbahnen in unserem Gehirn. Dieses glymphatische System wird von schmalen Hohlräumen um die Hirngefäße gebildet und regelt den Transport der Hirnflüssigkeit.

SLYM-Membran
Lage der neuentdeckten Hirnhautschicht (SLYM). © University of Copenhagen

Hirnhaut hat vier statt nur drei Schichten

Jetzt wurde eine weitere zuvor unerkannte anatomische Struktur in unserem Gehirn entdeckt. Kjeld Møllgård von der Universität Kopenhagen und seine Kollegen wollten eigentlich untersuchen, wie sich die Hirnflüssigkeit durch die Hirnhäute und ihre Zwischenräume bewegt. Dafür versetzten sie die Hirnflüssigkeit von Mäusen mit einem Fluoreszenzmarker und folgten mithilfe der Zwei-Photonen-Mikroskopie ihrem Weg.

Im Subarachnoidalraum – dem Raum zwischen der mittleren netzartigen Hirnhaut und der innersten, eng am Gehirn anliegenden zarten Hirnhaut – stießen sie dabei auf eine zuvor unerkannte Struktur: Neben den drei schon bekannten Hirnhäuten zeigte sich noch eine vierte, sehr dünne, aber kontinuierliche Schicht. „Diese Schicht teilt den Subarachnoidalraum in ein äußeres, oberflächliches Kompartiment und einen inneren, tieferen Bereich, der das Gehirn umgibt“, beschreiben die Forschenden den Fund.

Barriere für Peptide und Proteine

Damit haben Møllgård und seine Kollegen die Existenz einer vierten Hirnhautschicht nachgewiesen. Diese Subarachnoidal Lymphatic-like Membrane (SLYM) getaufte Schicht existiert nicht nur bei der Maus, sondern auch bei uns Menschen, wie die Forschenden berichten. Die SLYM-Schicht besteht aus nur wenigen Zelllagen und ähnelt in ihrer Beschaffenheit dem Mesothel, einer zarten Membran, die unsere inneren Organe und Körperhöhlungen umschließt.

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Trotz ihrer geringen Dicke besitzt die SLYM-Membran offenbar eine wichtige Barrierefunktion. Denn größere Moleküle können diese Schicht nicht passieren, wie Tests mit farbmarkierten Partikeln verschiedener Größen ergaben. „SLYM hemmt demnach den Austausch der meisten Peptide und Proteine – darunter auch Beta-Amyloid- und Tau-Proteine – zwischen dem äußeren und inneren Teil des Subarachnoidalraums“, erklären die Wissenschaftler.

Barrierefunktion
Die SLYM-Membran trennt den Subarachnoidalraum in zwei Kompartimente und lässt Moleküle (rot, blau) von einem Mikrometer Größe nicht passieren.© Peter Kusk und Virginia Pla

Immunwächter und Kontrolleur der Hirnflüssigkeit

Die neuentdeckte Schicht könnte demnach dabei helfen, saubere, frische Hirnflüssigkeit von alter, mit Abfallstoffen und potenziell schädlichen Molekülen durchsetzter Flüssigkeit zu trennen. „Die Entdeckung einer neuen anatomischen Struktur, die den Fluss der cerebrospinalen Flüssigkeit im und um das Gehirn kontrolliert und partitioniert, unterstreicht die wichtige Rolle der Hirnflüssigkeit“, sagt Seniorautorin Maiken Nedergaard von der University of Rochester.

Doch das ist nicht alles: Ähnlich wie die Mesothel-Membranen um andere Organe hat auch die SLYM-Hülle um unser Gehirn eine eigene „Eingreiftruppe“ des Immunsystems. Sie enthält größere Mengen an Abwehrzellen, darunter Makrophagen und die für die „Feinderkennung“ wichtigen dendritischen Zellen, wie Analysen enthüllten. „Das deutet darauf hin, dass die SLYM auch als Nische für die immunologische Überwachung dient“, erklären die Forschenden.

Außerdem könnte die neuentdeckte SLYM-Membran als eine Art Gleitschicht dienen: Sie verringert die Reibung zwischen dem Gehirn und dem Schädel, beispielsweise bei starken Kopfbewegungen oder Stößen.

Wenn die Schutzschicht reißt

Das aber bedeutet: Wenn die schützende SLYM-Membran verletzt wird, könnte sich dies auf die gesamte Immunabwehr des Gehirns und sein „Abwassersystem“ auswirken. Denn dann können potenziell schädliche Verunreinigungen bis in den inneren Subarachnoidalraum und das Gehirn vordringen. Gleichzeitig sind dann wichtige Strömungskanäle unterbrochen. „Das könnte die gestörten Strömungsmuster des glymphatischen Systems nach einer traumatischen Hirnverletzung erklären“, so die Wissenschaftler.

Auch neuroentzündliche Komplikationen nach einer schweren Gehirnerschütterung und sogar das erhöhte Risiko für Alzheimer nach einem solchen Trauma könnten mit Verletzungen der SLYM-Membran verknüpft sein, wie Møllgård und seine Kollegen erklären. In Tests mit Mäusen konnten sie nachweisen, dass solche Barrierebrüche tatsächlich zu einer lokalen Ansammlung von Abwehrzellen und zu entzündlichen Prozessen führten.

Weitreichende Bedeutung

„Die Entdeckung einer vierten Hirnhautschicht hat daher Bedeutung über den Flüssigkeitstransport hinaus“, konstatieren die Wissenschaftler. Weitere Forschungen müssen nun klären, welchen Einfluss die SLYM-Membran und ihre Defekte auf die Funktion des Gehirns, auf neurologische Erkrankungen und auch auf die Passage von Wirkstoffen ins Gehirn haben. (Science, 2023, doi: 10.1126/science.adc8810)

Quelle: Science, University of Rochester Medical Center

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