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Neurobiologie

Alles im Blick: Sehen mit nur einer Gehirnhälfte

Wissenschaftler entdecken unvermutete Plastizität des werdenden Gehirns

Das Gehirn ist flexibler als angenommen: Es kann sogar das Fehlen einer ganzen Hirnhälfte teilweise ausgleichen. Diese erstaunliche Entdeckung gelang Forschern bei der Untersuchung einer Patientin, bei der sich aufgrund einer Entwicklungsstörung im Mutterleib die rechte Großhirnhälfte nicht ausgebildet hat. Trotzdem besitzt die Patientin ein fast normales Sehvermögen. Offenbar hat die linke Hirnhälfte der Patientin die Aufgaben der rechten übernommen und verarbeitet die Signale aus dem Auge nun alleine.

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Wie in einer Kamera erzeugt die Linse des Auges ein umgekehrtes Bild auf der Netzhaut: Die optischen Signale werden in der Netzhaut der Augen in elektrische Signale umgewandelt und über den Sehnerv bis in die Großhirnrinde geleitet. Normalerweise werden diese dann am Kreuzungspunkt der beiden Sehnerven auf die beiden Hälften der Großhirnrinde aufgeteilt. Dabei erhält die linke Hälfte ausschließlich Informationen aus dem rechten Gesichtsfeld – also rechts von der Nasenspitze -, die rechte Hirnhälfte nur Informationen aus dem linken Gesichtsfeld.

„Der Fall, dass beim Menschen eine Hirnhälfte das gesamte Gesichtsfeld repräsentiert, wurde bislang noch nie beschrieben“, erklärt Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Er und seine Kollegen haben die Chance genutzt, und die Patientin genauer untersucht. Die Wissenschaftler fanden dabei heraus, wie das Gehirn auf den Verlust einer der beiden Großhirnhälften reagiert. Ihre Ergebnisse sind in der aktuellen Ausgabe der „Proceedings of the National Academiy of Sciences“ (PNAS) erschienen.

Zusätzliche Signale lösen Umbau aus

Wenn eine der beiden Großhirnhälften fehlt, gelangen alle Signale aus den Augen in die verbleibende Hälfte. In dem konkreten Fall empfängt die linke Hälfte Signale aus dem gesamten Blickfeld. Mithilfe der funktionellen Kernspintomografie konnten die Wissenschaftler beobachten, dass ein Schachbrettmuster, das der Patientin gezeigt wurde, Nervenzellen der verbleibenden linken Großhirnrinde auch dann aktiv werden ließ, wenn es sich auf der linken Seite des Blickfeldes befand. Bei Menschen mit normaler Gehirnentwicklung reagierten die Zellen ausschließlich auf das Muster auf der rechten Seite.

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Die zusätzlichen Informationen bewirken einen umfangreichen Umbau der Hirnrinde auf der intakten Seite, sodass die neuen Sinneseingänge „Platz finden“ und verarbeitet werden können. Diese Umorganisation des Gehirns macht es möglich, dass die Patientin über das gesamte Gesichtsfeld hinweg gut sehen kann. Offenbar sind auch noch andere Gehirngebiete neu verdrahtet worden: „Eine Gehirnregion, die Bewegungen mit Sehinformationen koordiniert, ist bei ihr außerordentlich groß ausgebildet“, sagt Singer.

Botenstoffe zur Orientierung

Die Entdeckung hilft den Forschern auch bei der Frage, wie sicher gestellt wird, dass die Sehreize in die richtige Großhirnhälfte gelangen. Denn dazu müssen die Fortsätze von Nervenzellen aus den Augen entlang festgelegter Bahnen wachsen, um Verbindungen zur linken oder rechten Großhirnrinde zu

knüpfen. Die Fortsätze orientieren sich mithilfe von Botenstoffen, die sie an die Oberfläche von Neuronen „andocken“ können. Ähnlich wie Vorfahrt- und Stoppschildern lenken sie die Fortsätze in die richtige Richtung. Manche Nervenzellen werden von den Botenstoffen in die linke, andere in die rechte

Hälfte geleitet.

Wenn eine der beiden Hälften nicht vorhanden ist, werden die Zellen nicht mehr dorthin „gelockt“, sondern nehmen den anderen Weg. Während der frühen Gehirnentwicklung im Embryo gibt es im Sehnerv offenbar keine Botenstoffe, die als Stoppschilder fungieren und die Nervenzellen daran hindern, in die Hirnhälfte auf der gleichen Seite einzuwachsen“, erklärt Wolf Singer.

Flexibles Gehirn

Die Neurobiologen vermuten, dass die Entwicklungsstörung etwa einen Monat nach der Befruchtung im Mutterleib auftrat. Aus bislang unbekannter Ursache hat sich die linke Hälfte der Großhirnrinde nicht entwickelt. „Zu so einem frühen Zeitpunkt während der Entwicklung kann sich das Gehirn neu organisieren und so selbst auf massive Störungen reagieren. Im Laufe des Lebens nimmt diese Fähigkeit zwar immer mehr ab, aber selbst im Erwachsenenalter kann es Schäden und Verletzungen oft zumindest abmildern, wie wir zum Beispiel von Schlaganfall- Patienten wissen“, erklärt der Wissenschaftler.

(Max-Planck-Gesellschaft, 23.07.2009 – NPO)

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