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Naturereignisse/Naturkatastrophen

Westen der Stadt besonders gefährdet

Sedimente verstärken Bebenamplituden

Ein weiterer Faktor, der für die Gefährdung und konkreten Folgen eine Rolle spielt, sind die so genannte Standortfaktoren. Sie beschreiben das Schwingungsverhalten des Untergrunds bei einem Erdbeben in Abhängigkeit von der lokalen Geologie und Morphologie. Bei bestimmter Beschaffenheit kann der Untergrund die Wellen eines Bebens verstärken und damit die zerstörerischen Folgen potenzieren. So geschehen unter anderem bei dem Erdbeben, dass 1985 große Teile der Stadt Mexico City verwüstete.

Array-Messungen an ausgewählten Standorten zeigen gezielt Geschwindigkeits-Tiefenfunktionen des Untergrunds © GFZ-Potsdam

1999: Schäden vor allem im Westen

Auch im Raum Istanbul zeigte sich nach dem Erdbeben von 1999 eine lokal sehr unterschiedliche Schadensverteilung. So wurden insbesondere im westlichen Stadtteil von Istanbul Schäden beobachtet, die offenbar auf Standorteffekte und nur zum Teil auf schlechte Bausubstanz zurückzuführen waren. Um das Risiko für solche Effekte zu ermitteln, kartierten Forscher des Kandilli-Observatoriums und der Stadt Istanbul gemeinsam mit internationalen Partnern die Variation der oberflächennahen Geologie im Stadtgebiet. Sie erfassten dabei die elastischen Eigenschaften der oberflächennahen Sedimente beispielsweise durch flachgründige Bohrungen oder oberflächennahe geophysikalische Messungen im schon bebauten und geplanten Stadtgebiet.

Mit dieser sogenannten Mikrozonierung können sie lokal den geologischen Einfluss auf durch Erdbeben verursachte Bodenerschütterungen erfassen. Für diese Untersuchung der inhomogenen Schadensverteilung bestimmten GFZ-Wissenschaftler an 192 Standorten die so genannte Bodenunruhe. Sie ist eine Messgröße, die mit Seismometern als Einzelstation oder in Array-Anordnung in urbanem Gelände gemessen werden kann und eine schnelle Kartierung der Standorteffekte erlaubt. Aus den ermittelten Erschütterungswerten können die Forscher ableiten, wo die Resonanzfrequenz der dortigen Sedimente liegt. Sie ist entscheidend für die Frage, ob der Untergrund seismische Wellen bestimmter Frequenzen verstärkt und sich die zerstörerische Wirkung des Bebens damit potenziert.

Resonanzfrequenzen der Sedimente im westlichen Stadtgebiet von Istanbul, abgeleitet aus geophysikalischen Messungen der Bodenunruhe. Jede Messung dauerte ca. 30 Minuten. Schwarze Punkte stehen für Orte mit mehr als einer Resonanzfrequenz. © GFZ-Potsdam

Lockersedimente verstärken Bebenwellen

Die Ergebnisse zeigen, dass die Resonanzfrequenzen in Istanbul von Nordosten nach Südwesten abnehmen. Das stimmt gut mit der bekannten Verteilung der Sedimente im Stadtgebiet überein: Im Nordosten steht meist festes Gestein an, im Südwesten dagegen reichen Lockersedimente bis in einige hundert Meter Tiefe. Für die darauf stehenen Strukturen bedeutet dies nichts Gutes: Denn die Messungen zeigen deutlich, dass die seismische Energie innerhalb der Sedimente reflektiert wird und dadurch die Amplituden der Wellen sich verstärken.

Eine weiter Untersuchung bestätigt die Gefahr: Neben den Kartierungen an der Erdoberfläche hatten die Forscher im Stadtteil Ataköy ein vertikales Array aus Bohrlochseismometern installiert, um die Ausbreitung von seismischen Wellen auch in tieferen Sedimentschichten zu erfassen. Mit Sensoren in 25, 50, 75 und 150 Metern Tiefe konnten sie auf- und abtauchende Wellen unterscheiden sowie die mit dem Oberflächenarray ermittelten seismischen Geschwindigkeiten der Sedimente verifizieren.

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Zu erwartende Intensität um eine Stufe höher als bisher angenommen

Und noch etwas enthüllten die Messungen: In den obersten Sedimenten verlaufen die Wellen offenbar nicht, wie bisher angenommen, nur vertikal von oben nach unten. Stattdessen treffen die P- und S-Wellen auch horizontal ein und werden zudem noch im Sediment umgewandelt. Das aber bedeutet, dass die bisherige Berechnungspraxis zu falschen Ergebnissen führen kann. Ähnliches gitl auch für Messungen nur an flachen Bohrlöchern. Auch hier zeigen die jetzigen Messungen, dass diese zur Modellierung der Standorteffekte nicht ausreichen.

Die neuen Ergebnisse für Istanbul unterscheiden sich daher von den makroseismischen Werten um eine Stufe auf der seismischen Intensität-Skala. Für die Stadt bedeutet dies ein deutlich größeres Zerstörungsrisiko und stärkere Schäden als bisher angenommen. Die Szenarien ergeben, dass insbesondere der westliche Teil von Istanbul stark betroffen sein könnte, wie schon die Schadensverteilung nach dem Izmit-Erdbeben von 1999 gezeigt hat.

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Birger-Gottfried Lühr, Claus Milkereit, Stefano Parolai, Matteo Picozzi, Heiko Woith, Angelo Strollo, Mustafa Erdik, Atilla Ansal, Jochen Zschau / GFZ-Potsdam
Stand: 03.06.2011

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

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