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Evolution

Walrosse auf Abwegen

Massenselbstmorde oder Pech?

Großes Walross in Alaska © Budd Christman / NOAA

Alaska, Mitte Oktober 2005. Im Togiak National Wildlife Refugee an der Südwestküste des US amerikanischen Bundesstaats ist es kalt und windig. Nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit und passend düstere Kulisse für das Schauspiel, das sich direkt vor den Augen einiger Bewohner des nahe gelegenen Städtchens Togiak ereignet: Ein Walross steht auf den mehr als 30 Meter hohen Klippen von Cape Peirce und stürzt dann ohne ersichtlichen Grund von den Felsen herab zu Tode.

Doch der mächtige Bulle ist offenbar nicht das einige Tier, das dieses Schicksal erlitten hat. Wenig später finden die irritierten und geschockten Eskimos weitere 29 Kadaver am Fuß des Felsens – Indiz für einen einzigartigen, kollektiven Selbstmord der Tiere, die sich hier jedes Jahr zu tausenden versammeln? Doch so ein Todestrieb konnte von Wissenschaftlern bisher noch nie sicher belegt werden – auch nicht bei den Lemmingen. Aber was ist dann die Ursache für das ungewöhnliche Phänomen?

Die alarmierten Forscher aus dem Tierschutzgebiet und vom US Fish and Wildlife Service haben erst einmal keine Zeit über diese Frage nachzudenken. Mit vereinten Kräften müssen sie zunächst fünfzig weitere Walrosse aus gefährlichen Positionen am Steilufer retten und zu den anderen etwa 1.200 Tieren zurückbringen, die friedlich am Strand vom Maggy Beach vor sich hin dösen.

Massenabstürze an der Tagesordnung

Diese mysteriösen Vorkommnisse vom Oktober 2005 sind längst kein Einzelfall an den Klippen von Cape Peirce. Schon rund zehn Jahre zuvor – zwischen 1994 und 1996 – waren dort bei drei ähnlichen Vorfällen insgesamt 159 Walrosse zu Tode gestürzt. Zufall? Eine stichhaltige Erklärung für das Massensterben gab es jedenfalls auch damals nicht.

Walross-Herde © Budd Christman / NOAA

„Es ist wirklich ungewöhnlich und wir versuchen den Grund dafür herauszufinden“, sagte im Jahr 1996 der Manager des Togiak National Wildlife Refugee, Aaron Archibeque. Und der Walrossjäger Isaac Tuday aus dem Volk der Yupik ergänzte: „Bis dahin haben wir nie von solchen Vorkommnissen gehört. Die Walrosse bewegten sich bisher nicht in solchen Höhen. Es sieht so aus, als wenn sich die Tiere dann zu Tode stürzen, wenn es im Herbst hohes Mondlicht gibt.“

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Auch erste, schnell installierte Sicherungsmaßnahmen Mitte der 1990er Jahre konnten die Walrosse nicht von ihren Wanderungen und dem Absturz abhalten. „Wir brachten Fallschirmleinen mit Plastiktüten an, die im Wind flatterten, um sie von dort fernzuhalten“, sagte Archibeque. „Doch wir hatten damit keinen Erfolg.“ Denn immer, wenn der Wind nachließ, versagten die akustischen Warn- und Abschreckungssignale.

Totschlag auf der Klippe?

Die Spurensuche vor Ort ergab im Jahr 1996 immerhin erste Hinweise, wie es zu den Unglücksfällen kommen konnte: Die riesigen Walrossherden hatten zusammen mit dem heftigen Wind eine Sanddüne abgetragen, die bis dato den Aufstieg auf die Klippen verhinderte. Diese Erkenntnisse führten zu neuen Erklärungsversuchen abseits der Selbstmord-Theorie. Konnte es sein, dass sich die Walrosse auf die Klippe „verirrt“ und bei dem Versuch zur Herde zurückzukommen auf dem abschüssigen und schlüpfrigen Terrain eher zufällig abgerutscht waren? Oder hatten dem Herdentrieb folgende nachdrängelnde Walrosse im Übereifer ihre Anführer versehentlich vom Felsen in den Tod gestoßen?

Ein ganz andere Ursache für die Abstürze vermutete im Jahr 2006 ein Mitarbeiter des Togiak Tierschutzgebietes: Der gute Geruchssinn der Walrosse hat sie über die Klippen getrieben.

Walross in der Beringsee © NOAA
Die Meeressäuger, die sich vor allem von Schalentieren und Tintenfischen ernähren, seien dem „Duft“ des nahe gelegenen Ozeans gefolgt und dabei in den Tod gesprungen. „Sie folgen ihrer Nase – das ist meine Theorie“, sagte Pete Abraham der Anchorage Daily News. Dass die Tiere nicht gut sehen, könnte die Katastrophe begünstigt haben, so Abraham weiter. Konkrete Beweise für alle diese Hypothesen gibt es jedoch bisher nicht.

Noch merkwürdiger macht die Sache, dass sich solche Massenabstürze offenbar nur hier in Cape Peirce an Alaskas Südwestküste ereignen. Von nirgendwo anders auf der Welt gibt es Berichte über ähnliche Phänomene. Die Wissenschaftler und Walrossjäger stehen vor einem Rätsel.

Künstliche Düne als Rettung?

Um weitere Unglücke zu verhindern, haben sie im Jahr 2006 einen knapp 80 Meter langen und einen Meter hohen Holzzaun vor dem Aufgang zu den Klippen installiert. Er dient weniger als echtes Hindernis, so der im Togiak National Wildlife Refugee tätige Biologe Rob Mac Donald, sondern soll eine ähnliche Funktion erfüllen wie ein Schneezaun: Ziel der Wissenschaftler ist es, mit seiner Hilfe eine Sanddüne von fünf Meter Höhe oder mehr wachsen zu lassen, die den Walrossen den Weg nach oben versperrt.

Egal ob Massenselbstmord, Todessehnsucht, Irrtümer der Sinne oder folgenschwerer Herdentrieb: Die Walrosse von Cape Peirce sind nur eines von vielen Beispielen dafür, dass die Evolution ihre Geschöpfe offenbar nicht immer an alle Gegebenheiten perfekt angepasst hat. Ganz im Gegenteil…

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Stand: 18.01.2008

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Unfälle der Evolution
...oder doch geniale Anpassungsstrategien?

Walrosse auf Abwegen
Massenselbstmorde oder Pech?

Von Albatrossen und Geparden
Unvollkommene Geschöpfe der Natur

Lähmende Beute und tödliches Gift
Von Schlangen und Molchen

Schlechte Sicht, manipulierbares Gedächtnis
Nur Note ausreichend für den Homo sapiens?

Eiserne Reserve im Wurmfortsatz
Neue Erkenntnisse über ein anscheinend nutzloses Relikt aus der Urzeit

Mysteriöses Hummelsterben
Nahrungsmangel als Ursache

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