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Phänomene

Therapie statt Wegsperren

Hirnforschung kann auch beim neuen Anfang helfen

Wer als unheilbar krank und dabei noch als gefährlich gilt, sitzt unter Umständen für immer. Auf den Maßregelvollzug kann bei vermindert Straffähigen die Sicherungsverwahrung folgen – ein Schicksal, das auch schuldfähigen Tätern blüht, die zwar nicht als krank, aber als besonders gefährlich gelten.

„Lange Zeit wurden diese Menschen einfach weggesperrt“, sagt Grischa Merkel. „Ein unhaltbarer Zustand, den das Bundesverfassungsgericht im letzten Jahr für verfassungswidrig erklärt hat.“ Jetzt muss der Gesetzgeber für ein umfassendes Therapieangebot sorgen. „Ein Straftäter kann sich nur ‘bessern’, wenn sich in seinem Leben etwas ändert“, erklärt Merkel. „Sitzt er seine Zeit nur ab, ist weder ihm noch der Gesellschaft geholfen.“

Bildgebung für gezielte Therapie

Gerade hier könnten sich bildgebende Verfahren künftig als nützlich erweisen. Etwa um einen Therapiefortschritt zu dokumentieren oder um die richtige Behandlungsstrategie zu wählen. So folgert Jorge Ponseti, Psychologe und Psychotherapeut an der Universität Kiel, Anfang 2012 aus einer fMRT-Studie, dass sich Pädophilie im Hirnscan an spezifischen Mustern erkennen lasse. Studien seiner Gruppe sowie eines Teams der Universität Essen zeigen: Das Belohnungssystem von Probanden wird immer dann aktiv, wenn sie Bilder sehen, die ihrer sexuellen Neigung entsprechen – egal, ob hetero, homo oder pädophil.

Blick ins Gehirn mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie © NCI

Jetzt ist es Forschern um Ponseti gelungen, anhand der Aktivierungsmuster im fMRT unter insgesamt 56 Probanden, pädophile Studienteilnehmer zu erkennen. Nur bei drei der 24 Betroffenen irrten sie sich. Das könne künftig helfen, die richtige Behandlung zu wählen, glaubt der Forscher. Jemand, der sich in einer Art Ersatzhandlung an Kindern vergreift, braucht eine andere Therapie als Personen mit ausgeprägter pädophiler Neigung. Bei ihnen gilt es, die Selbstkontrolle zu stärken, damit sie ihrem Trieb nicht nachgeben.

Für Rechtswissenschaftlerin Merkel lauert hier aber auch Gefahr: „Wir dürfen nicht dazu übergehen, vermeintlich ‘gefährliche Gehirne‘ zu verurteilen und wegzusperren.“ Nur weil jemand eine pädophile Neigung habe, müsse er sich noch lange nicht an Kindern vergreifen. Ebenso wenig wie ein Psychopath zwangsläufig zum Killer wird.

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Für den Bielefelder Psychologen Markowitsch steht dennoch fest, dass die Hirnforschung künftig in der Rechtsprechung ihren festen Platz einnehmen wird. „Vor hundert Jahren gab es noch keine psychologischen Gutachten, und so selbstverständlich wie sie heute sind, werden eines Tages neurologische Befunde sein.“ Aber er wünscht sich noch etwas anderes von den Erkenntnissen der Hirnforschung: Die Einsicht, wie wichtig Prävention ist. „Gewalt und traumatische Erfahrungen hinterlassen Spuren im Gehirn“, sagt Markowitsch. „Unsere Kinder davor zu schützen und sie zu gewaltfreiem Miteinander erziehen, vermeidet neurologische Schäden, die später vielleicht antisoziales oder aggressives Verhalten fördern.“

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Stefanie Reinberger / dasgehirn.info – ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e. V. in Zusammenar
Stand: 08.06.2012

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Das Gehirn vor Gericht
Auf der Suche nach den neurobiologischen Wurzeln der Moral

Veränderte Gehirne – verändertes Verhalten
Drei Beispiele für "Spuren des Bösen"

Hirnscan als Lügendetektor?
Viele Spuren – wenig Aussagekraft

Ein Gen macht aggressiv
Was eine Mutation im MOA-A-Gen mit einem Gerichtsurteil zu tun hat

Schuldig aber krank
Wann macht eine Hirnveränderung schuldunfähig?

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