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Phänomene

Spielen ade?

Auf die Kindergärten kommt es an

Englisch lernen schon im Kindergarten? Vokabeln und das Einmaleins pauken mit Vierjährigen? Dies sind nur einige der Forderungen, die in letzter Zeit Eingang in die Bildungsdiskussion gefunden haben. Vor allem seit auch aufgrund von neurobiologischen Untersuchungsergebnissen klar wurde, dass Kinder schon früh gut und in manchen Bereichen sogar schneller lernen als Jugendliche oder Erwachsene. So eignen sich bereits Kleinkinder in mehrsprachigen Familien eine Zweitsprache genauso problemlos wie die eigentliche Muttersprache an.

Aber erst mit vier Jahren haben die meisten Kinder eine wichtige Voraussetzung für das Lernen entwickelt: die Fähigkeit zur Perspektivübernahme. Erst dann bekommen die Kinder beispielsweise ein Bewusstsein dafür, dass es sinnvoll sein kann, jemandem anderen – beispielsweise einem Erzieher, einem Lehrer oder Therapeuten – aufmerksam zu lauschen. Grund: Vielleicht weiß er ja doch mehr als ich selber.

Kind mit Malstiften © SXC

Und noch ein kognitiver Quantensprung vollzieht sich gerade bei Vierjährigen. Dies haben Psychologen um Daniala Kloo von der Universität Salzburg im Juli 2006 herausgefunden. Bis dahin, so die Forscher, können sich Kinder zwar gut in der Alltagswelt zurechtfinden und auch Objekte wie einen roten Apfel nach Farbe oder Form klassifizieren. Erst mit Vier aber ist der Nachwuchs so weit zu erkennen, dass ein bestimmtes Objekt manchmal mehrere Eigenschaften gleichzeitig hat. Es kann beispielsweise sowohl ein Apfel sein als auch ein rotes Objekt. Die Forscher um Kloo haben zudem sogar wichtige Indizien dafür gefunden, dass in diesem Alter entscheidende „Voraussetzungen für Verhaltensweisen wie Einfühlungsvermögen, Respekt und damit Toleranz geschaffen werden“.

Professorin Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hält aus solchen Gründen ein verpflichtendes Bildungsangebot für Kinder ab vier Jahren in speziellen Einrichtungen für sinnvoll. Aber wie könnte das genau aussehen? Eine Art Universität für Grundschüler und Kindergartenkinder? Auswendiglernen von Buchstaben, Grammatik oder Zahlenfolgen? In Reih und Glied sitzen und zuhören? Stern sagt nein: „Das würde nicht funktionieren, denn Kinder in diesem Alter können vom Zuhören noch nicht profitieren beziehungsweise mit dem Wissen etwas anfangen. Sie sollten viel mehr vorbereitet werden auf die Dinge, die wir in unserer Wissensgesellschaft lernen müssen“. Und die bereits in so genannten vor programmierten Kompetenzen im menschlichen Gehirn angelegt sind wie das Erkennen von Mustern oder das Sprechen.

Singen und Klatschen statt Drill

So kann man nach Ansicht Sterns schon Kindergartenkinder auf simple und einfache Art auf das Lesenlernen vorbereiten: Durch Reimen, Silben klatschen und Singen oder andere Sprechspiele. Und auch die Mathematik sollte bereits zur frühkindlichen Bildung dazugehören. Aber nicht das Subtrahieren, Addieren oder Multiplizieren, sondern beispielsweise das Entdecken von symmetrischen Gegenständen oder Mustern im Gruppenraum. So werden grundlegende Kenntnisse geschaffen, die den Kindern später in der Grundschule auf vielfältige Wiese das Lernen und Verstehen erleichtern.

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„Wir brauchen endlich eine professionelle Frühförderung, wir brauchen professionell strukturierte Bildungsangebote für Kinder ab vier Jahren. Nicht weil sie in diesem Alter schneller oder besser lernen als ältere Kinder, sondern weil man Kinder in diesem Alter spielerisch schon sehr gut auf das Lernen vorbereiten kann. Späteres Lernen könnte viel entspannter ausfallen als das in Deutschland bisher der Fall ist, wenn wir unsere Kinder einfach früher fördern würden.“, sagt Stern.

Streit um Englisch für Vierjährige

Aber wie ist das denn jetzt mit dem Englisch lernen ab Vier? Da sind sich selbst die Befürworter des frühkindlichen Lernens noch immer nicht ganz einig. „Es gibt einen altersbedingten Unterschied im Lernerfolg. In frühkindlichem Alter können wir eine Fremdsprache akzentfrei wie unsere Muttersprache lernen. Ähnlich ist es in Musik und Sport: Virtuosität und Meisterschaft sind in frühester Kindheit angelegt“, sagt dazu Ruxandra Sireteanu vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt im Interview mit der Zeitschrift Prisma.

Stern dagegen ist da nicht ganz so optimistisch: „Wir wissen noch nicht, ob das tatsächlich etwas bringt. Denn der instruktive Fremdsprachenunterricht, den wir alle in der Schule genossen haben, läuft natürlich ganz anders ab als der spontane Zweitsprachenerwerb.“ Und weiter: „Wenn ein oder zwei Mal pro Woche ein Englischlehrer in den Kindergarten geht und mit den Kindern ein paar englische Vokabeln übt, dann werden diese Vokabeln sicher auch hängen bleiben. Aber ob die Kinder davon wirklich bis ins Erwachsenenalter profitieren, wissen wir nicht.“

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Stand: 11.08.2006

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Was Hänschen nicht lernt...
Streit um die frühkindliche Bildung

Spielen ade?
Auf die Kindergärten kommt es an

Letzte Chance mit 7
Frühförderung als Pflicht?

Experimente statt Abstraktionen
Neue Konzepte für die Schule

Viel mehr als nur bunte Bilder?
Gehirnforschung liefert neue Erkenntnisse über das Lernen

Lernen muss Spaß machen
Neuroimaging und seine Bedeutung für die Bildung

Frühförderung ja, aber wie?
Gehirnforscher und Bildungswissenschaftler im Disput

Revolution in Schulen und Kindergärten
Wege aus der Bildungsmisere

PISA – kein Ende in Sicht
Eine internationale Vergleichsstudie und ihre Folgen

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