Anzeige
Medizin

Schimmernde Zinnen und Popcorn-Duft

Das Phänomen der Aura

Dass Migräne weit mehr ist als nur einfache Kopfschmerzen, zeigt unter anderem das Phänomen der Aura. Bei rund zehn Prozent der Migräniker sind die Attacken dabei von zusätzlichen neurologischen Erscheinungen begleitet. Beginnend meist eine halbe Stunde oder Stunde vor dem Auftreten der Kopfschmerzen, kann sich der Anfall beispielsweise durch eine Sehstörung ankündigen:

Typisch halbmondförmiges Skotom: die visuelle Aura während eines Anfalls © Tehom / gemeinfrei

Schimmerndes Zinnenmuster

„Ein helles, schimmerndes Licht erschien zu meiner Linken – blendend hell, fast so wie die Sonne“, beschreibt der Neurologe Oliver Sacks seine erste Migräne-Erfahrung als Vierjähriger. „Es dehnte sich aus, wurde zu einem enormen schimmernden Halbkreis, der sich vom Boden bis zum Himmel erstreckte, mit scharfen Zickzack-Rändern und in brillanten blauen und orangen Farbtönen. Dann, nach der Helligkeit kam eine Blindheit, eine Leere in meinem Gesichtsfeld, und bald konnte ich auf meiner linken Seite fast nichts mehr sehen. Meine Sicht kehrte nach einigen Minuten zur Normalität zurück, aber dies waren die längsten Minuten, die ich bis dahin jemals erlebt hatte.“

So zeichnete ein Forscher 1912 die Skotom-Muster der visuellen Aura © "Migrena" Monographie (1912) 7 historisch

Diese von einem deutlichen Rand begrenzte Form der visuellen Aura wird heute als Skotom bezeichnet. Typisch dafür sind das Zinnenmuster und der von ihm eingegrenzte „leere Fleck“. Ähnliche Zickzack-Muster sah offenbar auch der berühmte Astronom John Herschel häufiger. Er schrieb 1850 in einem Brief an seinen Kollegen und Freund George Airy: „Habe das Zinnenmuster heute zweimal in meinen Augen gesehen. Eine Art von Schachmuster füllte es aus, und eine Art Teppichmuster im Rest des Sehbereichs.“ Von ähnlich geometrischen Mustern berichten auch andere Migräniker. Seltsamerweise aber auch Patienten, die unter Drogen stehen oder aus einem Unterzuckerungs-Delirium erwachen.

Mikrowellen-Popcorn als Vorwarnzeichen

Aber nicht nur der Sehsinn, auch andere Formen der Wahrnehmung können von einer Aura betroffen sein. So erleben einige Migräniker auch Verzerrungen oder Halluzinationen von Geruch oder Geschmack. Wie konkret diese Erscheinungen werden können, beschreibt unter anderem Migränepatientin Charlotte im Migräneblog der New York Times: „Das Anzeichen dafür, dass eine schwere Attacke naht, ist seltsamerweise der deutliche Geruch von Mikrowellen-Popcorn. Ich rieche es dann überall, es ist aber unmöglich, die Geruchsquelle zu finden. Manchmal scheint der Duft sogar direkt aus meinen Fingerspitzen zu strömen. Ich besitze gar keine Mikrowelle und aus offensichtlichen Gründen hat Popcorn für mich keinerlei Anziehung.“

Neben solchen Halluzinationen kann auch das Selbstbild oder die Eigenwahrnehmung während einer Migräne-Aura verändert oder gestört sein. Das Spektrum reicht hier von einem kribbelnden Gefühl in den Extremitäten oder Lippen bis hin zu Sprechstörungen oder sogar einseitigen Lähmungen. Einige Migräniker beschreiben zudem ein Gefühl der Ich-Auflösung, einem vorübergehenden Zustand der Entpersonalisierung.

Anzeige
Migräne als Inspiration für "Alice im Wunderland"? Alice mit dem größenverändernden Trank © Buchillustration von John Tenniel (1865)

Alice im Wunderland-Syndrom

„Es gibt aber auch Erfahrungen, bei denen sich das Körperbild verzerrt, so dass sich die Betroffenen sehr groß oder sehr klein fühlen“, erklärt Sacks. Manche sehen und empfinden dabei nur einzelne Gliedmaßen von sich als grotesk aufgebläht oder geschrumpft. „Wenn ich mich hinsetze, fühle ich mich plötzlich, als wenn mein Kopf so groß ist wie der Tisch, während meine Hände, Füße und mein Rumpf ganz klein werden“, zitiert der russische Neurologe Alexander Lurija seinen Patienten Zazetsky.

Dieser Verzerrungseffekt, auch als „Alice im Wunderland-Syndrom“ bezeichnet, könnte sogar der Auslöser für die namensgebende Geschichte gewesen sein. Denn der Buchautor Lewis Carroll litt unter einer Migräne mit Aura. Möglicherweise haben ihn seine Erfahrungen mit solchen Aura-Phänomenen auf den Einfall der größenverändernden Tränke und Kekse in seinem Buch gebracht.

  1. zurück
  2. |
  3. 1
  4. |
  5. 2
  6. |
  7. 3
  8. |
  9. 4
  10. |
  11. 5
  12. |
  13. 6
  14. |
  15. 7
  16. |
  17. 8
  18. |
  19. 9
  20. |
  21. 10
  22. |
  23. weiter

Nadja Podbregar
Stand: 04.03.2011

Teilen:
Anzeige

In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Migräne: Die Axt im Kopf
Fakten und Mythen einer geheimnisvollen Krankheit

Wenn die Axt zuschlägt…
Leben mit der Migräne-Attacke

Schimmernde Zinnen und Popcorn-Duft
Das Phänomen der Aura

Ödipus und Schuldkomplex
Migräne als psychische und psychosomatische Krankheit

Perfektionistisch und unsicher
Gibt es eine Migräne-Persönlichkeit?

Adern, Wellen und Hormone
Auf der Suche nach den Auslösern der Migräneattacke

Migränegenerator und Co.
Schwelbrand im Hirnstamm oder Übererregbarkeit der Hirnrinde?

Es bleibt in der Familie…
Die genetische Basis der Migräne

Lebensbedrohlich
Migräne ist keine Bagatelle

Januskopf Migräne
Krankheit, Schmerz und Kreativität

Diaschauen zum Thema

News zum Thema

Hirnaktivität sagt Migräneattacke voraus
Aktivität von Nervenzellen im Trigeminuskern des Gehirns kündigt Migräneanfälle an

Genetische Ursache der Migräne identifiziert
Weltweite Vergleichsstudie findet genetischen Risikofaktor auf Chromosom 8

Bakteriengift verhindert Migräne
Botulinumtoxin als Vorbeugung bei chronischer Migräne geeignet

Kopfschmerzexperten ziehen Migräne an
Fachärzte häufiger betroffen als Bevölkerung und andere Ärzte

Chronische Schmerzen: Akupunktur wirkt
Erneute belegt große Studie die Wirksamkeit

Dossiers zum Thema

Schmerz - Alarmstufe Rot im Nervensystem