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Ökologie

Egoistisch oder selbstlos?

Gruppenbildung und Altruismus als Evolutionsvorteil

Schon zum zehnten Mal an diesem Tag kehrt die Arbeiterin in den Bienenstock zurück. Sie hat bereits 120 Blüten besucht und bei jedem Flug fünf hundertstel Gramm Nektar transportiert. Und den Ertrag dieser mühseligen Arbeit behält sie nun nicht einmal für sich allein, sondern teilt ihn mit bis zu 70.000 weiteren Mitgliedern des Stocks. Selber schuld?

Zwei junge Belding-Ziesel - geschützt durch die Aufpasser ihrer Gruppe © Alan Vernon / CC-by-sa 2.0 us

Scheinbar noch ungerechter geht es beim Belding-Ziesel zu, einem kleinen Nager in den westlichen USA. Sobald sich ein Falke nähert, stößt eines der Tiere einen Warnruf aus. Während sich der Rest des Rudels nun in Sicherheit bringen kann, schwebt das Ziesel, das die anderen gewarnt hat, nun in größerer Gefahr, denn es hat den Falken durch den Ruf auf sich aufmerksam gemacht. Ist das wirklich sinnvoll? Ist das noch Evolution nach Darwin, bei der nur die bestangepassten Individuen überleben?

Opfer bringen für die Gemeinschaft

In einer Gemeinschaft hilft man sich. Aber wenn eine Antilope einer anderen das Fell pflegt, verschwendet sie dann nicht in diesem Moment Zeit und Energie, die sie besser für das eigene Überleben aufgewendet hätte? Und was, wenn sich einige Gruppenmitglieder in Gefahr begeben, nur um der Gemeinschaft zu nützen? Bei unseren Vorfahren ging beispielsweise immer nur ein Teil des Clans auf die Jagd. Der Nutzen für die Gruppe liegt auf der Hand, aber die Jäger riskieren ihr Leben. Aber warum? Was haben sie davon – evoutionsbiologisch gesehen? Vordergründig geht es in der Evolution um den Fortbestand der eigenen Gene, nicht um die der Artgenossen. Erklärungsansätze, warum die Bildung von Gruppen dennoch Vorteile bringt, liefern zwei Formen des Altruismus.

Beim reziproken Altruismus muss keine Verwandtschaft vorliegen. Dieser Theorie nach erhält ein Individuum, das einem anderen hilft, zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls Hilfe. Nach dem Motto: Hilfst du mir, dann helfe ich dir. Das setzt allerdings voraus, dass die beiden Akteure sich wiedertreffen, wiedererkennen und sich an die erbrachte Hilfe erinnern – eine gewisse Intelligenz wird also vorausgesetzt.

Frau Müller und die Tasse Zucker

Diese Form des Altruismus findet sich vor allem bei uns Menschen häufig: Leiht Frau Müller ihrer Nachbarin eine Tasse Zucker, sind alle Voraussetzungen erfüllt. Da die Nachbarin direkt nebenan wohnt, ist die Wahrscheinlichkeit für ein Wiedersehen groß. Vermutlich wird ihre Nachbarin sie auch wiedererkennen und sich – wenn Frau Müller selber einmal keinen Zucker mehr im Haus hat – entsprechend revanchieren. Was aber, wenn ihre Nachbarin Frau Müller einfach die Tür vor der Nase zuschlägt und keinen Zucker rausrückt? Dann ist Frau Müller getäuscht worden, hat eigene Ressourcen abgegeben und erhält nun keine Gegenleistung.

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Tatsächlich basiert der reziproke Altruismus auf der Annahme, dass eine Gefälligkeit sich irgendwann einmal auszahlt. Wenn sich das Gruppenmitglied revanchiert, haben beide einen Vorteil aus der Kooperation gezogen. Aber wenn nicht? Für die Nachbarin bringt es schließlich zunächst keinen Vorteil, die „Schuld“ einzulösen und nun selber eine Tasse Zucker herauszurücken.

Wie du mir, so ich dir

Um diese Frage zu klären, haben Forscher schon in den 1980er Jahren Computerprogramme zu Hilfe genommen und zwei Turniere veranstaltet. Als Ausgangssituation diente das von Robert Axelrod entwickelte Gefangenendilemma: Zwei Bankräuber werden gefasst und müssen sich nun – ohne die Möglichkeit einer Absprache – entscheiden, ob sie aussagen oder nicht. Gestehen beide, muss jeder für fünf Jahre ins Gefängnis. Gesteht keiner, beträgt die Gefängnisstrafe nur ein Jahr, weil sie lediglich wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt werden. Gesteht nur einer der beiden, kommt dieser als Zeuge frei, während der andere ganze 20 Jahre ins Zuchthaus muss. Diese dritte Möglichkeit wäre also für den Geständigen die günstigste, aber nur, wenn der andere nicht gesteht. Durch eine Kooperation kämen beide relativ gut weg, aber der Gegner könnte sich das Schweigen zunutze machen, um als Zeuge auszusagen.

Die Computerprogramme verfolgten im Test verschiedene Strategien, um bei dieser Ausgangssituation möglichst wenige Jahre Gefängnis aufgebrummt zu kriegen. Erstaunlicherweise gewann bei beiden Turnieren ein ganz einfaches Programm mit der Handlungsstrategie „Tit for Tat“ (in etwa: Wie Du mir so ich Dir). Im ersten Schritt kooperierte das Programm, ab da wiederholte es einfach die Reaktionen seines Gegners. Wenn dieser ebenfalls kooperierte, zeigte sich auch „Tit for Tat“ weiterhin kooperativ. Verhielt sich der Gegner egoistisch und sagte aus, ließ sich das Programm nicht ausnutzen und verhielt sich im nächsten Schritt ebenfalls unkooperativ. „Tit for Tat“ wurde in beiden Turnieren mit dem Sieg belohnt, ganz wie die Strategie des reziproken Altruismus bei der natürlichen Auslese den meisten Erfolg zeigte.

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Nadja Podbregar / Kerstin Fels
Stand: 30.08.2013

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Die Masse macht's
Das Erfolgsgeheimnis von Gruppen, Rudeln und Schwärmen

Gemeinschaft als Urbedürfnis
…auch beim Menschen

Leibwächter, Königin und Taxifahrer
Erfolgrezept Arbeitsteilung

Egoistisch oder selbstlos?
Gruppenbildung und Altruismus als Evolutionsvorteil

Schwesternbund statt Kindersegen
Warum das Aufopfern für Verwandte Sinn macht

Begnadete Ingenieure
Nur in der Gemeinschaft möglich: Komplexe Bauten

Gemeinsame Jagd
Die Gruppe als Fressgemeinschaft

Zielscheibe Einzelgänger
Die Gruppe als Schutz

Allein im Wald
Warum Tiger trotzdem einzeln jagen

Im Schwarm
Mit der Reisegruppe unterwegs

Alle für Eines
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