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Medizin

Befreiung von den „Schlacken“

Warum viele Anthroposophen und Homöopathen gegen Impfungen sind

Essen, Frühjahr 2010. Die Gesundheitsämter schlagen Alarm: Ein neuer Masern-Ausbruch bahnt sich in der Stadt an. 71 Fälle wurden bereits gemeldet, weitere werden vermutet. Nähere Untersuchungen ergeben, dass von den Erkrankten 30 eine Walddorfschule besuchen, 20 sind Patienten bei anthroposophisch orientierten Ärzten. Alle Patienten bis auf drei sind ungeimpft. Nahezu zeitgleich brechen auch an einer Berliner Waldorfschule die Masern aus. Wie sich herausstellt, hat sich ein Schüler bei einer Indienreise infiziert. Weil nur ein Drittel seiner Mitschüler gegen die Krankheit geimpft ist, kann sich die Infektion ausbreiten, insgesamt erkranken 62 Kinder.

Impfen als Entwicklungsbremse? © CDC

Krankheit als „Individualisierung“

Bloßer Zufall? Nicht ganz. Denn gerade in der anthroposophischen Medizin gelten Krankheiten als wichtige Entwicklungsschritte des Kindes. In einem Merkblatt heißt es: „Durch das Fieber überwindet das Kind nicht nur die Maserninfektion, sondern individualisiert dabei auch seinen Organismus.“ Es komme dabei zu einem „Neuaufbau leiblicher Strukturen“, in dessen Rahmen der von den Eltern ererbte Körper „individualisiert“ werde. Das Kind gehe damit gestärkt aus der Krankheit hervor. Wer demnach diese Entwicklung unterdrückt – beispielsweise durch eine Schutzimpfung – stört dieser Anschauung nach diesen Lernprozess und fördert Allergien und andere Fehlentwicklungen. Die Gefahr schwerer Komplikationen oder sogar eines tödlichen Ausgangs muss dafür offenbar in Kauf genommen werden.

Dass eine überwundene Infektion zumindest das Immunsystem gegen einen erneuten Angriff des gleichen Erregers stärken kann, ist unstrittig. Dass aber beispielsweise eine schwere Masern-Erkrankung darüber hinaus positive Effekte haben soll, halten die meisten Ärzte schlicht für falsch. „Bisher gibt es keine wissenschaftlichen Studien, die zeigen würden, dass sich nicht geimpft Kinder geistig oder körperlich besser entwickeln als geimpfte“, heißt es dazu in einer Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts (RKI). Ganz im Gegenteil: Zum einen trainiert und stärkt auch eine aktive Immunisierung die Abwehrkräfte. Zum anderen aber sind gerade Kinder, die eine schwere Infektion durchmachen müssen, oft benachteiligt, weil der Kampf gegen die Krankheit ihrem Körper Energie raubt, die er für das geistige und körperliche Wachstum braucht.

An Masern erkrankter Junge © CDC

Aber nicht nur die Lehre Rudolf Steiners steht vielen Impfungen eher ablehnend gegenüber: Auch viele Heilpraktiker und Homöopathen raten unsicheren Eltern häufig von einer Impfung ihrer Kinder ab. Teilweise mit ganz ähnlichen Argumenten: „Prinzipiell handelt es sich bei Kinderkrankheiten (Masern, Mumps, Röteln,..) um keine Krankheiten im eigentlichen Sinne, sondern um Sollbruchstellen, wo sich Kinder von den ‚Schlacken‘ ihrer vorhergehenden Entwicklungsstufe befreien und nun in eine neue Phase ihres Lebens, sowohl körperlich als auch geistig durchbrechen“, heißt es beispielsweise in einem „Impfberatungs“-Buch des Homöopathen August Zöbl. Und weiter: „Bakteriozentrische Ärzte dürfen und müssen impfen, homöopathische dürfen nicht und brauchen nicht impfen – weil der Erreger als Teil der Ganzheit auf ihrer Seite steht.“

Ein vermeidbarer Tod

Welche Folgen es haben kann, wenn Eltern solchen vermeintlich guten Ratschlägen folgen, zeigen Fälle wie der zweier Jungen in Österreich, über die die Ärztin Siliva Vieker im Journal „Neuropediatrics“ berichtet. Beide waren auf den Rat einer homöopathischen Ärztin hin als Kleinkinder nicht gegen Masern geimpft worden. Unter anderem, weil der ältere der beiden unter Neurodermitis litt – was nach Angaben von Medizinern keine Kontraindikation bei der Masern, Mumps, Röteln-Kombinationsimpfung (MMR) ist. Als Schulkinder erkrankten beide Jungen dann an Masern, zunächst scheinbar ohne Folgen.

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„Zwei Jahre nach der Infektion aber zeigte der ältere Bruder zunehmende Verhaltensstörungen“, berichtet Vieker. Innerhalb von Wochen entwickelte das siebenjährige Kind Muskelzuckungen und psychomotorische Krämpfe, kurz darauf fiel es ins Koma. Untersuchungen ergaben, dass der Junge unter einer sogenannten subakuten sklerotisierenden Panenzephalitis (SSPE) litt – einer durch unvollständig ausgebildete Masernviren ausgelöste Form der Hirnentzündung. Sie tritt bei rund einem von tausend Masernfällen auf und führt unweigerlich zum Tod.

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Najda Podbregar
Stand: 19.07.2013

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Streit ums Impfen
Wie nötig und nützlich ist schützende Immunisierung?

Ein mutiger Sultan
Der erste große Impfversuch gegen die Pocken

Immun!
Ein englischer Arzt, viele Skeptiker und der erste echte Impfstoff

Eine Erfolgsgeschichte…
..mit vermeidbaren Rückschlägen

Befreiung von den "Schlacken"
Warum viele Anthroposophen und Homöopathen gegen Impfungen sind

Der Autismus-Schreck
Die Masern-Kombinationsimpfung und der Wakefield-Betrug

Allergie durch Impfung?
Sind gehäufte Impfungen zu belastend für das kindliche Immunsystem?

Nebenwirkungen
Eine Frage der Verhältnismäßigkeit

Die Sache mit den Zusatzstoffen
Was machen Quecksilber, Aluminium und Co im Impfstoff?

Unter dem Schutz der Herde
Warum Impfen auch die anderen schützt

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