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Medizintechnik

Auf dem Weg zum optischen Cochlea-Implantat

Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität

Interdisziplinäres Team von Wissenschaftler*innen der Universitätsmedizin Göttingen und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg erzeugt mittels Leuchtdioden-basierter optischer Cochlea-Implantate erstmals lichtgesteuertes Verhalten in tauben Nagetieren.

Das Innenohr- oder Cochlea-Implantat (CI) ermöglicht über 700.000 hochgradig schwerhörigen und tauben Menschen weltweit wieder zu hören. Dabei wird der Hörnerv bisher durch elektrische Impulse stimuliert. Die Qualität dieses künstlichen Hörens unterscheidet sich stark von natürlichem Hören. Durch die ausgedehnte Stromausbreitung in der Gehörschnecke werden statt weniger Nervenzellen große Nervenzellgruppen aktiviert – vergleichbar mit dem Spielen eines Klaviers mit Boxhandschuhen statt mit einzelnen Fingern. CI-Träger*innen können zwar in 1:1-Gesprächen kommunizieren, sind aber bei Umgebungsgeräuschen und mehreren Sprechern häufig auf Lippenlesen angewiesen. Auch der Musikgenuss ist eingeschränkt. Eine grundlegende Verbesserung verspricht die zielgenaue Anregung des Hörnervs mit Licht.

Nach 12 Jahren Forschung zu grundlegenden Fragen zum Hören mit Licht ist die Hörforschung am Göttingen Campus um Prof. Dr. Tobias Moser, Direktor des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), auf dem Weg zur Entwicklung eines optischen Cochlea-Implantats in Richtung klinische Anwendbarkeit. In Zusammenarbeit mit einem von Dr. Patrick Ruther geleiteten Team von Ingenieuren des Instituts für Mikrosystemtechnik (IMTEK) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg konnte ein für Langzeituntersuchungen geeignetes optisches Cochlea-Implantat System mit integrierten Mikro-Leuchtdioden (µLEDs) entwickelt werden. Im Tiermodell der menschlichen Schwerhörigkeit stimuliert dieses System den zuvor gentechnisch lichtempfindlich gemachten Hörnerv zielgenau mit optischen Pulsen. Das System ist viel kleiner und leichter als das klinisch genutzte CI und kann daher auch bei Nagetieren eingesetzt werden. Die Wissenschaftler sind noch einen wichtigen Schritt weiter gegangen und zeigen anhand von Verhaltensexperimenten, dass das optische CI tauben Nagetieren das Hören wieder ermöglicht – und das über Wochen. Veröffentlicht wurden die Forschungserkenntnisse am 22. Juli 2020 in der renommierten Fachzeitschrift „Science Translational Medicine“.

Forschungsergebnisse im Detail

Erstmals konnte die Funktionalität der neu entwickelten Cochlea-Implantate mit bis zu 10 µLEDs, die eine Kantenlänge von lediglich 0,25 Millimetern aufweisen, über einen Zeitraum von über einem Monat im Tiermodell getestet werden: Im Vorfeld der Experimente bekamen die Nager ein harmloses Virus injiziert, um ihren Hörnerv über molekulare Lichtschalter (Kanalrhodopsine) lichtempfindlich zu machen. Mit Hilfe von akustischen Reizen wurden die Tiere auf eine Verhaltensreaktion trainiert, danach medikamentös hörgeschädigt und mit einem optischen CI versorgt. „Erstaunlicherweise zeigten einige taube Tiere sofort das gleiche Verhalten auf das Lichtsignal wie zuvor bei normalem Hören im Training auf einen gespielten Ton. Dies könnte darauf hindeuten, dass die optische Stimulation dem natürlichen Höreindruck nahekommt“, sagt Dr. Daniel Keppeler, einer der Erstautoren der Publikation und Mitarbeiter am UMG.

Um diesen Entwicklungsschritt zu erreichen, mussten die LED-Sonden gut verkapselt werden. Damit sollten die empfindlichen elektronischen Bauteile vor der in der Gehörschnecke befindlichen Salzlösung geschützt werden. „Die größte Herausforderung liegt für uns in der Verkapselung der Implantate. Sie ist entscheidend für deren Langzeitstabilität im Tiermodell“, sagt Dr. Michael Schwärzle, Erstautor und ehemaliger Mitarbeiter am Institut für Mikrosystemtechnik der Universität Freiburg.

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Ebenso wichtig für das Gelingen der Verhaltensexperimente über mehrere Wochen war die Entwicklung eines mobilen Prozessors am UMG. Die kleine Recheneinheit wandelt Umgebungsgeräusche über ein integriertes Mikrofon in elektrische Signale um und überträgt diese an das optische CI. In der Miniaturisierung des optischen Cochlea-Implantats für die Testung an Nagetieren lag eine weitere Herausforderung für das interdisziplinäre Wissenschaftlerteam. Es sollte möglichst leicht sein, damit die Tiere es ohne Probleme im Verhaltensexperiment tragen können. Gerade mal 15 Gramm wiegt das gesamte CI-System, das entspricht etwa einem Esslöffel Zucker.

Diese Studie legt einen weiteren wichtigen Grundstein auf dem Weg zum Medizinprodukt in der klinischen Anwendung. Zukünftige Herausforderungen liegen in der Erhöhung der Kanalanzahl sowie der Weiterentwicklung zu noch besserer Langzeitstabilität und Sicherheit. „Das elektrische CI, mit dem wir uns in der klinischen Übertragbarkeit messen dürfen, setzt die Messlatte im Bereich Langzeitstabilität besonders hoch“, sagt Dr. Tamas Harzcos, Erstautor und Wissenschaftler am UMG.

„Bei der interdisziplinären Entwicklung hat uns sehr geholfen, dass wir als Team von Ingenieuren vor Ort sein konnten und direkt an den Implantationsversuchen beteiligt waren. Diese Zusammenarbeit ermöglichte uns neue Einblicke ins biomedizinische Umfeld, die die technische Entwicklung stark unterstützen. Wir haben eine gemeinsame Sprache zwischen Medizinern und Technologen gefunden und voneinander viel gelernt“, sagt Dr. Patrick Ruther, Seniorautor und Arbeitsgruppenleiter am Institut für Mikrosystemtechnik der Universität Freiburg.

„Die Entwicklung von Gentherapie und optischen CIs für die klinische Anwendung stellt uns und Kollegen weltweit vor große Herausforderungen, die nur in multidisziplinärer Zusammenarbeit bewältigt werden können.“, sagt Prof. Dr. Tobias Moser, Seniorautor der Publikation und Sprecher des Exzellenzclusters Multiscale Bioima-ging (MBExC) und des Sonderforschungsbereichs 889 am UMG.

Die Forschung am optischen CI wurde umfangreich gefördert, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, den Europäischen Forschungsrat und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Tobias Moser, Daniel Keppeler und weitere Kollegen haben zum Zwecke der Vorbereitung der klinischen Studie das Göttinger Unternehmen OptoGenTech aus der Universitätsmedizin Göttingen ausgegründet.

Hintergrund: Hören mit Cochlea-Implantat – mit Strom und mit Licht

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO wird sich die Zahl der Menschen mit Hörverlust und Taubheit bis zum Jahr 2050 um 52 Prozent auf ins-gesamt 900 Millionen Menschen erhöhen. Bislang gibt es keinen ursächlichen Therapieansatz für das Innenohr.

Patient*innen mit hochgradigem Hörverlust oder gar Taubheit kann aktuell mit elektrischen Cochlea-Implantaten (CI) geholfen werden. Das CI ist eine implantierbare Hörprothese, die Umgebungsgeräusche über einen externen Sprachprozessor aufnimmt, umwandelt und das Signal auf implantierte Elektroden in der Gehörschnecke überträgt. Dabei werden die defekten oder nicht-vorhandenen Haarzellen umgangen und die Hörnervenzellen durch Stromimpulse direkt angeregt. Dieses Signal wird dann entlang der Hörbahn bis zur Hirnrinde weiterverarbeitet. Ein Problem beim Hören entsteht durch die elektrische Reizung in der mit Salzlösung gefüllten Cochlea: Trotz vieler Bemühungen lässt sich der Strom nicht ausreichend räumlich begrenzen. So werden viele Nervenzellen, die für ein breites Spektrum an Tonhöhen zuständig sind, gleichzeitig elektrisch angeregt. Die Zahl der unabhängigen Stimulationskanäle sind hier typischerweise auf unter zehn begrenzt.

Die Anregung mit gerichtetem Licht verspricht, den Hörnerv gezielter zu reizen. Dafür müssen Viruspartikel in die Hörschnecke eingebracht werden, die einen molekularen Lichtschalter in die Hörnervenzellen einbauen. Dieser lässt sich mit Hilfe von schwachen Lichtpulsen aktivieren und imitiert so die Funktion der Haarzellen. Hören mit Licht könnte zukünftig CI-Nutzern eine feinere Unterscheidung von Tonhöhen, und somit ein besseres Verstehen von Sprache in lauter Umgebung sowie größeren Musikgenuss ermöglichen. (Science Translational Medicine, 2020; doi: 10.1126/scitranslmed.abb8086)

Quelle: Universitätsmedizin Göttingen – Georg-August-Universität

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