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Neurobiologie

Hirnjogging: Alles Humbug?

Wissenschaftler fordern kritische Prüfung von Angeboten

„Hirnjogging“ ist in – denn es soll, so die Versprechungen der Hersteller der diversen Trainingsprograme, die geistige Leistungsfähigkeit langfristig und vor allem im Alter steigern. Aber was ist dran an diesen markigen Werbesprüchen? Nicht viel, wie jetzt 30 renommierte Wissenschaftler in einem Memorandum meinen, Sie fordern eine wissenschaftliche und unabhängige Überprüfung solcher Produkte.

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In weniger als einem Jahrhundert ist die Lebenserwartung in den entwickelten Ländern um durchschnittlich 30 Jahre gestiegen. In diesem Zusammenhang wächst bei vielen Menschen die Sorge, ihre Selbständigkeit im hohen Alter durch körperliche und geistige Einschränkungen zu verlieren. Eine steigende Zahl kommerzieller Anbieter verspricht, geistige Fähigkeiten im Alter durch Hirntraining zu erhalten oder zu steigern. Eine wissenschaftliche Absicherung dieses Versprechens liegt jedoch zumeist nicht vor.

„Zaubermittel gibt es nicht“

Auf Einladung des Stanford Center on Longevity und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung trafen sich im April 2008 30 namhafte Kognitions- und Neurowissenschaftler sowie Alternsforscher an der Stanford University in Kalifornien. Ziel des Treffens war unter anderem die Erarbeitung einer gemeinsamen Erklärung, die die Verbraucher über den aktuellen Stand der Wissenschaft informiert. Die Wissenschaftler fordern in ihrem gemeinsam unterzeichneten Memorandum die wissenschaftliche und unabhängige Überprüfung der Wirksamkeit von „Hirnjogging“-Produkten und geben Empfehlungen auf der Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse.

„Die Erklärung bezieht sich vor allem auf kommerzielle Anbieter, die das Blaue vom Himmel versprechen“, erklärt Ulman Lindenberger, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „Das Zaubermittel, das die alterungsbedingte Minderung der Hirnleistung oder gar Alzheimer aufhält, gibt es bislang nicht“, betont Laura Carstensen, Direktorin des Stanford Center on Longevity und Mitinitiatorin des Memorandums.

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Gute Ansätze, aber zu wenig Forschung

Die Unterzeichner unterstützen durchaus die weitere Forschung zu softwarebasierten kognitiven Trainingsprogrammen. Die Ergebnisse einiger neuerer Untersuchungen geben ihrer Meinung nach sogar Anlass zu Optimismus. „Moderne Technik bietet ein großes Potential für die soziale und geistige Anregung im Alter“, ergänzt Ulman Lindenberger. „Technik, soziale Teilhabe und Altern bilden keine Gegensätze. Die moderne Informationstechnologie kann auch älteren Erwachsenen, die beispielsweise in ihrer körperlichen Mobilität eingeschränkt sind, sinnvolle Möglichkeiten bieten. Soziale Kontakte könnten mit ihrer Hilfe aufrecht erhalten oder sogar neu geknüpft werden. Zukünftige software-basierte kognitive Trainingsprogramme sollten diese soziale Dimension von vornherein berücksichtigen. Ihre langfristige Wirksamkeit sollte in Verlaufsstudien überprüft werden.“

Leistungsfähiger im Alter

Es gibt Grund zum Optimismus. Die geistige Leistungsfähigkeit älterer Erwachsener nimmt im historischen Vergleich zu. Ältere Menschen in entwickelten Ländern sind heute im Durchschnitt geistig leistungsfähiger als Menschen desselben Alters in früheren Zeiten. Die Alternsforschung erkundet die gesamte Bandbreite möglicher Alternsverläufe und versucht, Ursachen günstiger und ungünstiger Verläufe zu ermitteln und zu beeinflussen.

Wirksamkeit von Nahrungsergänzungsmitteln nicht belegt

Obwohl plausible biochemische Erklärungsmodelle vorliegen, belegt die Summe der derzeit vorliegenden klinischen Studien nicht, dass Nahrungsergänzungsmittel wie zum

Beispiel Gingko biloba die geistige Leistungsfähigkeit steigern oder deren Abbau aufhalten. Insgesamt liegen nur zu wenigen Nahrungsergänzungsmitteln Ergebnisse aus großen kontrollierten klinischen Studien mit Zufallszuordnung vor, die in begutachteten Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Die Forscher regen daher an, die Wirkung von Nahrungsergänzungsmitteln weiter eingehend zu untersuchen.

Training wirkt nur punktuell

Softwarebasierte Trainingsprogramme und Denkspiele verbessern die Fertigkeiten, die sie trainieren. Hingegen zeigen nur sehr wenige dieser Programme eine positive Wirkung (im Sinne eines Transfers) auf allgemeine geistige Fähigkeiten oder Leistungen in Alltagssituationen. Wenn man zum Beispiel eine Gedächtnistechnik zum Einprägen von Wortlisten trainiert, so gelingt es einem anschließend besser, sich Listen von Wörtern zu merken.

Es gibt jedoch bislang nur wenig Hinweise darauf, dass dieses Training die Gedächtnisleistung insgesamt verbessert, und es nach Abschluss des Trainings etwa besser als zuvor gelingt, den verlegten Autoschlüssel zu finden. Die Wissenschaftler empfehlen daher, die Wirksamkeit von softwarebasierten Trainingsprogrammen und Denkspielen weiter zu untersuchen und ermuntern Interessierte, an entsprechenden wissenschaftlichen Studien teilzunehmen.

Vorher informieren

Die Forscher empfehlen Verbrauchern, sich bei ihrer Entscheidung, kommerzielle Hirntrainingsprogramme zu erwerben, am Vorliegen unabhängiger wissenschaftlicher Überprüfungen der Wirksamkeit dieser Produkte zu orientieren. Untersuchungen, die von interessierter Seite wie beispielsweise dem Hersteller durchgeführt und nicht unabhängig überprüft wurden, sind wenig aussagekräftig. Von weitaus höherem Wert sind Ergebnisse, die von unabhängigen Gutachtern geprüft und in einer anerkannten Fachzeitschrift veröffentlicht wurden.

Die Wiederholbarkeit dieser Ergebnisse in weiteren Untersuchungen an unabhängigen Forschungseinrichtungen erhöht deren Glaubwürdigkeit zusätzlich. Die Experten befürworten die Durchführung unabhängiger Untersuchungen zur Wirksamkeit von Erfolg versprechenden Hirntrainingsprogrammen sowie zur Wirksamkeit der auf dem Markt befindlichen, nicht oder unzulänglich überprüften Produkte.

Anti-Demenz-Trainings meist Humbug

Besondere Vorsicht ist bei Produkten geboten, die versprechen, Alzheimer oder anderen Formen dementieller Erkrankungen vorzubeugen oder diese Krankheiten heilen zu können. Es gibt derzeit keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass markterhältliche Softwareprogramme oder andere kognitive oder soziale Interventionen einer Demenzerkrankung vorbeugen oder deren Auftreten verzögern. Allerdings trägt ein verantwortungsbewusster Umgang mit der eigenen Gesundheit, insbesondere die Kontrolle der Blutdruck- und Blutzuckerwerte, positiv zur geistigen Leistungsfähigkeit bei.

Kurzfristig wirksam, langfristig nicht

Unterschieden werden muss zwischen kurzfristigen Verbesserungen einzelner Fertigkeiten und dem langfristigen Erhalt geistiger Fähigkeiten. Zur kurzfristigen Verbesserung zum Beispiel des Namensgedächtnisses stehen zahlreiche anerkannte Methoden zur Verfügung. Hingegen konnten derzeit erhältliche Produkte und Methoden bislang nicht nachweisen, dass sie den geistigen Leistungsabbau langfristig über mehrere Jahre oder Jahrzehnte vermindern können. Zur Überprüfung der langfristigen Wirksamkeit von Hirntrainingprogrammen sind umfangreiche Verlaufsstudien

erforderlich.

Jede Art von Lernen trainiert

Lernen regt das Gehirn an und steigert das Kompetenzerleben. Es gibt keine Hinweise darauf, dass hierfür ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Methode erforderlich ist. Bevor man Zeit und Geld für ein Hirnjogging-Produkt aufwendet, sollte man nach Ansicht der Experten die „versteckten Kosten“ in Rechnung stellen: Jede Stunde am Computer ist eine Stunde weniger, die man zum Beispiel mit Wandern, dem Lernen einer Fremdsprache, dem Ausprobieren eines neuen Kochrezepts oder dem Spielen mit Enkelkindern verbringen kann.

Bewegung ist wichtig und wirksam

Körperliche Bewegung ist eine kostengünstige und wirksame Methode zur Verbesserung der Gesundheit. Darüber hinaus kann körperliche Bewegung auch zur Steigerung der Hirnfitness beitragen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass regelmäßiges körperliches Ausdauertraining die Hirndurchblutung steigert und die Bildung neuer Blutgefäße und Nervenzellverbindungen anregt. Körperliches Ausdauertraining steigert nachweislich Aufmerksamkeit, Denkvermögen und Gedächtnisleistung. Körperliches Training ist daher nach Ansicht der Forscher ein viel versprechender Ansatz zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Sie befürworten daher auch die Durchführung weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen in diesem Bereich.

(MPG, 07.05.2009 – NPO)

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