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Neurobiologie

Nichts-tun verändert das Gehirn

Konzept der Neuroplastizität erweitert

Einige Wochen in Gips und der Tastsinn lässt merklich nach. © Ruhr-Universität Bochum

Bereits seit langem ist bekannt, dass häufiger und intensiver Gebrauch der Hände zur Entwicklung außergewöhnlicher sensomotorischer Fähigkeiten führt. Und auch die Repräsentation der Hände auf der „Körperlandkarte“ im Gehirn vergrößert sich durch das Training. Allerdings funktioniert dieser Prozess auch umgekehrt, wie Neurowissenschaftler jetzt festgestellt haben.

Wird eine Hand – etwa wegen eines Gipsarms – eine Weile nicht benutzt, verkleinert sich die Repräsentation im Gehirn und der Tastsinn lässt messbar nach, so die Forscher um Professor Dr. Martin Tegenthoff und Dr. Hubert Dinse von der Ruhr-Universität Bochum in der Fachzeitschrift „Current Biology“.

Arm und Hand in Gips

Um herauszufinden, wie sich ein vorübergehender Nichtgebrauch der Hände auf das Gehirn und die Verhaltensleistungen auswirkt, untersuchten die Forscher eine Reihe von Patienten, die aufgrund eines Unfalls über mehrere Wochen hinweg einen Gips an Arm und Hand tragen mussten und die betroffene Hand im Alltagsgeschehen kaum benutzten.

Das jeweilige Ausmaß der Benutzung von gesunder und betroffener Hand wurde durch Sensoren aufgezeichnet. Die Wissenschaftler maßen dann die Auswirkungen der Bewegungseinschränkungen zum einen auf die Organisation der Hand-Repräsentation im Gehirn und zum anderen auf den Tastsinn: Die Versuchspersonen sollten unterschiedlich eng beieinander stehende Nadelspitzen durch Ertasten mit dem Zeigefinger unterscheiden.

In Abhängigkeit vom räumlichen Abstand werden beide Spitzen getrennt, oder bei zu geringem Abstand nur noch als eine einzelne Spitze wahrgenommen. Der Abstand, bei dem gerade noch zwei getrennte Spitzen wahrgenommen werden, ist ein Maß für die Güte des Tastsinns. Beide Messungen nahmen sie zweimal vor, das erste Mal zwei bis drei Wochen nachdem der Gips angelegt worden war, das zweite Mal zwei bis drei Wochen nach Gipsabnahme.

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Tastsinn lässt merklich nach

Durch den Einsatz funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) – ein bildgebendes Verfahren, das das Ausmaß der bei einer Tätigkeit aktiven Hirnbereiche sichtbar macht – konnten die Forscher zeigen, dass eine Stimulation des Zeigefingers der betroffenen Hand eine wesentlich geringere Aktivität im entsprechenden Hirnbereich – somatosensorischer Kortex – auslöste als die Stimulation des Zeigefinger der gesunden Hand.

Ebenso war der Tastsinn der betroffenen Hand im Vergleich zur gesunden Hand und zur Leistung gesunder Kontrollpersonen stark beeinträchtigt. Mit der betroffenen Hand nahmen die Versuchspersonen zwei Nadelspitzen noch als eine einzige wahr, auch wenn sie mit der gesunden Hand deutlich spürten, dass es sich um zwei Spitzen handelte.

Nach dem Gips ist vor dem Gips

Zwei bis drei Wochen nach der Gipsabnahme war von diesen Beeinträchtigungen nach Angaben der Forscher nichts mehr festzustellen: Die Hirn-Repräsentation der ehemals betroffenen Hand unterschied sich nicht mehr von der gesunden Hand, und der Tastsinn verbesserte sich wieder auf das Niveau der gesunden Hand bzw. der Leistung gesunder Kontrollpersonen.

„Schon wenige Wochen Nichtgebrauch von Hand und Fingern haben also messbare, negative Konsequenzen für Gehirnorganisation und sensomotorischen Leitungsfähigkeit des Menschen, die allerdings reversibel sind“, sagt Dinse. „Nicht-Benutzung wird demnach vom Gehirn genauso beantwortet wie intensivere Benutzung. Tut man nichts, passiert im Gehirn nicht nichts, sondern Gehirnfunktionen werden eingeschränkt“.

Diese Resultate deuteten nach Ansicht der Forscher darauf hin, dass der kontinuierliche Strom von Sinneswahrnehmungen notwendig sein könnte, um eine effiziente Gehirnorganisation somatosensorischer Areale aufrechtzuerhalten und sensomotorische Leistungsfähigkeit zu ermöglichen.

(idw – Ruhr-Universität Bochum, 28.04.2009 – DLO)

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