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Physik

Elektronen entdecken ihre Individualität

Wissenschaftler beobachten Wechsel von kooperativem zu individuellem Verhalten bei unterschiedlich schnellen Elektronen

Elektronen zwischen kooperativem (kohärentem) und selbstbezogenem Verhalten: Wird ein Elektron mit relativ niedriger Geschwindigkeit aus einem Stickstoffmolekül katapultiert, zeigt es sich kooperativ: Die Wellen, die wie ein Pseudo-Paar von beiden Atomen ausgesendet werden, überlagern sich. Das bleibt auch so, wenn eine dieser Elektronenwellen an einem Atom gestreut wird. Selbstbezogen oder wie ein Individuum verhält sich ein Elektron dagegen, wenn es das Molekül schnell verlässt. Trifft das Elektron nun auf das Nachbaratom und wird an diesem gestreut, erkennt es, von welchem Atom es gestartet ist. Es überlagert sich dann mit seiner gestreuten Welle. © Fritz-Haber-Institut / Uwe Becker

Elektronen haben mit Menschen etwas gemeinsam: Je mehr Informationen sie über ihre Situation gewinnen, desto mehr werden sie sich ihrer Individualität bewusst und desto mehr verliert die Kollektivität an Bedeutung. Dabei geht der kooperative Gleichklang verloren, der die Elektronen in einer festen Beziehung zu ihrer Umgebung bindet. Das haben Wissenschaftler festgestellt, als sie mithilfe von Röntgenstrahlung Elektronen aus Molekülen zweier Stickstoffatome herauskatapultierten.

Wird ein Elektron dabei nur wenig beschleunigt, erkennt es nicht, von welchem der beiden Atome es ausgesendet wurde, so die Forscher des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft in der Fachzeitschrift „Nature Physics“. Dann verhält es sich so, als käme es von beiden Atomen: Es tritt als Pseudo-Paar auf, das sich vollständig kooperativ verhält. Ist das Elektron dagegen schnell genug, kennt es seine Herkunft. Dann zeigt es die Eigenschaften eines Individuums.

Am Übergang zwischen kooperativem und individuellem Verhalten eines Elektrons lässt sich auch der Regimewechsel zwischen der Quantenphysik und der klassischen Physik untersuchen. Darüber hinaus spielen solche Übergänge bei technisch interessanten Materialien wie Supraleitern und Magneten sowie künstlichen Molekülen eine Rolle, die – aufgebaut aus Quantenpunkten – als Bauelemente von zukünftigen Quantencomputern Daten verarbeiten sollen.

Stickstoffmolekül mit Röntgenstrahlen ionisiert

In Supraleitern geben Elektronen ihr einzelgängerisches Verhalten auf und schließen sich zu Paaren zusammen. Diese „Cooper-Paare“ leiten Strom ohne Widerstand. In magnetischen Materialien werden gar alle Elektronen, von denen jedes einzelne einem kleinen Stabmagneten ähnelt, gleichgerichtet als nähmen sie für eine militärische Formation Aufstellung. Um solche Materialien gründlicher zu verstehen und möglicherweise ihre Eigenschaften zu verbessern, wollen Physiker herausfinden, wie Elektronen vom kooperativen auf individuelles Verhalten und umgekehrt umschalten.

Diesen Übergang haben Uwe Becker und seine Mitarbeiter am Berliner Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft nun an einzelnen Elektronen untersucht. Sie haben ein Stickstoffmolekül mit Röntgenstrahlen ionisiert und die Energie der Strahlung dabei allmählich erhöht. Mit der Energie der eingestrahlten Röntgenstrahlung wächst die Bewegungsenergie der herausgeschlagenen Elektronen – sie nehmen mehr Tempo auf. Im quantenmechanischen Bild, in dem sich Elektronen gleichzeitig als Teilchen und als Wellen präsentieren, bedeutet das: Ihre Wellenlänge, die Physiker de Broglie-Wellenlänge nennen, wird kürzer. Denn je mehr Energie eine Welle enthält, desto kürzer ist ihre Wellenlänge.

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Wahrnehmungsvermögen der Elektronen im Visier der Forscher

Wie die Wellenlänge elektromagnetischer Wellen darüber entscheidet, welche Details sie in ihrer Umgebung wahrnehmen können, verbessert sich analog dazu auch das Wahrnehmungsvermögen der Elektronen, wenn ihre de Broglie-Wellenlänge schrumpft. Je höher ihre Energie, desto mehr Informationen gewinnen sie also über ihre Umgebung.

Im Experiment der Berliner Physiker machte sich das deutlich bemerkbar, als die Wellenlänge des Elektrons unter den Abstand der beiden Atome des Stickstoffmoleküls sank. Diese beiden Atome sind symmetrisch, der Röntgenstrahl unterscheidet also nicht, aus welchem Atom er das Elektron herauskatapultiert. Und solange die Wellenlänge des wegfliegenden Elektrons größer als dieser Atomabstand ist, macht auch das Elektron keinen Unterschied darin, von welchem Atom es kommt. Es kennt seinen Herkunftsort nicht einmal.

Elektron als Pseudo-Paar

Mehr noch: Das eine Elektron zeigt sogar Eigenschaften eines Paares von Elektronen, dessen Partner von beiden Atomen gestartet sind. Und das entspricht auch der Realität, weil das emittierte Elektron ständig zwischen den beiden Atomen hin- und hertunnelt – eine quantenmechanische Art der Fortbewegung, die Teilchen Wege eröffnet, die ihnen nach der klassischen Physik aus energetischen Gründen versperrt sind. Beim Tunneln springt das Elektron extrem flink zwischen den beiden Stickstoffatomen hin und her.

„Wenn es das Molekül dann mit niedriger Bewegungsenergie, also relativ langsam verlässt, kann es nicht mehr auseinanderhalten, von welchem Atom es tatsächlich losgeflogen ist“, erklärt Becker. Anders ausgedrückt: Das einzelne Elektron tritt dann als Pseudo-Paar auf, dessen Hälften von je einem Atom starten – eines der wunderlichen Phänomene, die nur in der Quantenphysik möglich sind.

Dass sich das Elektron tatsächlich als Elektronen Pseudo-Paar auf die Reise macht, erkennen die Physiker an einem charakteristischen Intensitäts-Muster, das die beiden Hälften des Elektrons bei ihrem Nachweis erzeugen. Da sie sich wie Wellen verhalten, überlagern sie sich zu einem charakteristischen Interferenzmuster – ganz so, wie sich die Wellen zweier Steine überlagern, die gleichzeitig in einen Teich fallen. Solch ein Interferenzmuster beweist nicht nur, dass ein Elektron von zwei Atomen gestartet ist. Es belegt auch das phasengekoppelte und damit kooperative Verhalten der beiden „Hälften“ des Elektrons.

Wenn Elektronen ihre Herkunft kennen…

„Dieses spezielle Interferenzmuster beobachten wir nicht mehr, wenn die Geschwindigkeit des emittierten Elektrons einen bestimmten Wert überschreitet“, sagt Becker. Dann schrumpft die de Broglie-Wellenlänge des Elektrons unter den Abstand der Stickstoffatome und das Elektron kann jetzt wie ein „Heisenberg-Mikroskop“ wahrnehmen, von welchem Atom es ausgesendet wurde.

Die Idee zu einem solchen Mikroskop hatte Werner Heisenberg formuliert, wobei er annahm, Teilchen durch einen energieabhängigen Stoßprozess über seine Unschärfe-Relation zu lokalisieren, und damit örtlich auflösen zu können. Da sich ein solches Mikroskop zu seinen Lebzeiten nicht realisieren ließ, distanzierte er sich später von seinem Vorschlag. „Unser Experiment ist eines der seltenen Beispiele für ein derartiges Mikroskop“, sagt Becker.

Da die Elektronen mit hoher Geschwindigkeit nun also ihre Herkunft kennen, kommt infolgedessen ein anderer Effekt zum Tragen. Kurz nachdem das Elektron losfliegt oder sich wellenförmig ausbreitet, trifft es auf das zweite Atom – aber nun kann es zwischen den beiden Atomen unterscheiden. Solch ein Hindernis auf dem Weg einer Welle wirkt als Startpunkt für eine neue Wellenfront. Dieses Phänomen bezeichnen Physiker als Streuung. Es bewirkt, dass das eine Elektron nun in seiner ursprünglichen ungestreuten und in der gestreuten Version in dieselbe Richtung läuft.

Struktur fester Stoffe aufklären

Die beiden Wellen des ursprünglichen und des gestreuten Elektrons vom gleichen Atom überlagern sich nun anstelle der zwei von verschiedenen Atomen ausgesandten Wellen. Diesen Effekt nutzen Physiker, um in einem Verfahren namens „Extended X-ray Fine Structure“, kurz EXAFS, die Struktur fester Stoffe aufzuklären. Dabei entsteht nämlich ebenfalls ein Interferenzmuster, das Aufschluss über Art und Anordnung der streuenden Atome gibt. Dieses Muster unterscheidet sich allerdings von jenem der beiden „Hälften“ eines Elektrons, die bei niedrigen Energien von den zwei Atomen ausgesendet werden. Denn das gestreute Elektron verhält sich nicht mehr kooperativ zu seinem Nachbarelektron, sondern nur noch zu seinem ungestreuten Vorläufer.

Becker drückt das so aus: „Die Wellen von beiden Seiten sind nicht mehr kohärent und stehen daher in keiner festen Phasenbeziehung mehr zueinander.“ Letzteres bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass die Berge und Täler der beiden Wellen keinen festen Abstand zueinander haben. Die Kohärenz geht verloren, weil das Elektron nun erkennt, von welchem Atom es stammt: Es verhält sich selbstbezogen.

Parallelen zwischen Physik und Gesellschaft

Nicht nur, um den Übergang vom kooperativen zum selbstbezogenen Verhalten der Elektronen anschaulich zu erläutern, zieht Becker eine Parallele zwischen diesem physikalischen Phänomen und bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen: „Sobald Menschen mehr Informationen über sich und ihre Umgebung erhalten, fangen sie an ihre Situation zu reflektieren“, erklärt der Physiker. Ihr Verhalten, das vorher völlig vom kohärenten Einklang mit seiner Umgebung, das heißt dem Kollektiv, bestimmt war, wird dann ebenfalls stärker selbstbezogen.

Dieser Übergang lasse sich derzeit in verschiedenen Kulturen, insbesondere im mittleren Osten, beobachten. Der Grund, warum etwa die Taliban versuchten, ihrer Bevölkerung Bildung und Information in so einfachen Formen wie populärer Musik und wie Unterhaltungsfilmen vorzuenthalten, ist die Angst vor diesem unausweichlichen Prozess, der tradierte, auf Kohärenz basierende gesellschaftliche Strukturen in ihrer Existenz elementar infrage stellt. Diese angstgeprägte Haltung verkenne jedoch die Chancen, die eine wissensbasierte Gesellschaft für die Zukunft einer zwar selbstbezogenen, aber dennoch solidarischen Gesellschaft biete, meint Becker.

(MPG, 25.08.2008 – DLO)

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