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Neurobiologie

Forscher manipulieren Selbstwahrnehmung

Räumliche Einheit von Körper und Selbst im Cyberspace aufgehoben

Wer bin ich und was ist das Selbst des Menschen? War die uralte Frage nach dem Ich und dem Kern unseres Selbstbewusstseins früher alleine die Domäne von Theologen und Philosophen, so stehen heute mit der Hirnforschung neue Techniken zur Untersuchung des menschlichen Wesens zur Verfügung. Philosophen und Neurowissenschaftler haben nun mit Mitteln der virtuellen Realität die körperliche Selbstwahrnehmung manipuliert.

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Die Wissenschaftler aus Deutschland und der Schweiz konnten dabei zeigen, dass die räumliche Einheit von Körper und Selbst aufgelöst werden kann und bei den Versuchspersonen ein Gefühl entsteht, als ob ein virtueller Körper ihr eigener sei. Die Forscher berichten über ihre Ergebnisse in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science.

Normalerweise erleben wir unser bewusstes Selbst als in unserem Körper verankert und durch ihn begrenzt. Diese räumliche Einheit von Körper und Selbst kann in bestimmten Situationen wie etwa außerkörperlichen Erfahrungen vorübergehend aufgelöst werden. So wird bei der Heautoskopie, auch Spiegelhalluzination genannt, zusätzlich zum eigenen physischen Körper ein zweiter Körper als eigener wahrgenommen beziehungsweise halluziniert.

Anhand von klinischen Daten über solche Situationen, in denen Körper und Selbst anscheinend auseinanderfallen, haben Wissenschaftler der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne in Kooperation mit Professor Thomas Metzinger von der Universität Mainz ein Experiment entworfen, um bei gesunden Versuchspersonen und unter kontrollierten Bedingungen die räumliche Einheit von Körper und Selbst aufzulösen.

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Neues Ganzkörperexperiment im Cyberspace

Die Versuchsteilnehmer erhielten dabei in einer Cyberspace-Umgebung nicht übereinstimmende sensorische und optische Informationen, angelehnt an das ältere „Gummihand-Experiment“. Bei der Gummihand-Illusion beobachtet die Versuchsperson die Nachbildung einer menschlichen Hand, während eine der eigenen Hände verdeckt ist. Sowohl die künstliche Gummihand wie auch die unsichtbare eigene Hand werden mit einem Stäbchen in einem synchronen Rhythmus gestreichelt. In dem Experiment erleben gesunde Versuchspersonen das künstliche Glied als einen Teil ihres eigenen Körpers und spüren die gesehene Berührung in der Gummihand.

„Bei unserem neu entwickelten Ganzkörperexperiment haben die Probanden einen virtuellen Körper als ihren eigenen wahrgenommen und sich teilweise mit der dreidimensionalen Projektion identifiziert, wenn sie am Rücken gestreichelt wurden und dabei gleichzeitig gesehen haben, dass die ‚vor ihnen stehende‘ Projektion am Rücken gestreichelt wurde“, erklärt Metzinger zu den Ergebnissen.

Bei den Versuchen schauen die Teilnehmer über einen Bildschirm, der wie eine Brille direkt über den Augen sitzt, auf sich selbst, das heißt auf das gefilmte und in die virtuelle Realität eingesetzte Bild ihres eigenen Körpers, der dann zum Beispiel mit einem Stäbchen in einem synchronen Rhythmus gestreichelt wird.

„Zum Teil haben die Versuchsteilnehmer ihr Selbst tatsächlich außerhalb des eigenen Körpers wahrgenommen und ihr Selbstgefühl in dem simulierten Avatar lokalisiert, sie dachten, der virtuelle Körper sei ihr eigener“, so Metzinger. „Es handelt sich dabei aber noch nicht um eine komplette außerkörperliche Erfahrung, weil zum Beispiel der Gleichgewichtssinn und das Bewegungsgefühl bei dem ‚wirklichen‘ Körper verbleiben. Letztlich ist aber natürlich auch das, was wir im Normalfall als den ‚wirklichen‘ Körper erleben, nur der Inhalt dessen, was in meiner eigenen Theorie als das ‚phänomenale Selbstmodell‘ bezeichnet wird.“

Out-of-body-Experiences

Berichte über Out-of-body-Experiences hat es zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben. Sie führten zu den ersten Vorläufern einer Theorie des Geistes, sei es als Theorie über einen ätherartigen Hauch, der beim Tod oder bei Ohnmachten den Körper verlässt, oder in dem Begriff einer feinstofflichen, noch räumlich ausgedehnten Seele, wie wir ihn aus vielen Mythen und Religionen kennen. Metzinger stellt diese mythischen Vorstellungen in einen weiteren philosophischen Kontext.

In seiner „Selbstmodell-Theorie der Subjektivität“ hat er eine wissenschaftliche Theorie des Bewusstseins entwickelt und den begrifflichen Rahmen für ein interdisziplinäres Forschungsprogramm aufgebaut. Eine der Kernaussagen der Theorie ist, dass es so etwas wie Selbste in der Welt nicht gibt: Niemand war oder hat ein Selbst. Was es gibt, ist das phänomenale Selbst – als das bewusst erlebte Ichgefühl und verschiedene, ständig wechselnde Inhalte des Selbstbewusstseins. Es ist kein Ding, sondern ein fortlaufender Prozess, der Inhalt eines „transparenten Selbstmodells“.

Brücke zwischen Geistes- und Neurowissenschaften

Die jetzt veröffentlichten Experimente sind nicht nur deshalb interessant, weil sie die Theorie stützen, sondern auch deshalb, weil sie eine neue Perspektive auf die philosophisch bedeutsame Frage eröffnen, was genau die einfachste und grundlegende Form des nicht-begrifflichen Selbstbewusstseins sein könnte.

Metzinger gelingt es mit seinen Theorien, eine Brücke zwischen den Geisteswissenschaften und der Neurowissenschaft zu bauen, was sich auch in engen Kooperationen wie mit dem Neurowissenschaftler Olaf Blanke von der ETH Lausanne oder im Rahmen universitätsinterner Zusammenarbeit zeigt.

(idw – Universität Mainz, 24.08.2007 – DLO)

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