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Paläontologie

Erste Europäer konnten keine Milch verdauen

Studie liefert neue Erkenntnisse über die Evolution des Menschen

Dekontamination von Skeletten unter UV-Bestrahlung. © Joachim Burger

Die Fähigkeit von Erwachsenen, Milchzucker und damit Milch überhaupt verdauen zu können, hat eine wesentliche Rolle bei der Evolution von Europäern gespielt. Dies konnte jetzt ein internationales Wissenschaftler-Team bei Untersuchungen an mehrere tausend Jahre alten Skeletten aus der Jungsteinzeit zeigen. Die Forscher entdeckten, das die so genannte Laktasepersistenz in Europa in der frühen Jungsteinzeit kaum vorhanden war und sich offenbar erst in den letzten 8.000 Jahren entwickelt hat.

"Die Fähigkeit von uns Erwachsenen, Milch ohne Probleme zu verdauen, muss sich also später durch natürliche Selektion verbreitet haben", sagt Professor Joachim Burger vom Institut für Anthropologie der Universität Mainz. "Wahrscheinlich hat die Fähigkeit zur Milchverdauung sogar einen entscheidenden Selektionsvorteil bei der Entwicklung der sesshaften Ackerbauern und Viehzüchter im mittleren und nördlichen Europa gebracht." Die Mainzer Forscher berichten zusammen mit Kollegen des University College in London in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) über ihre Untersuchungen, die anhand alter Erbsubstanz – so genannter aDNA – aus archäologischen Skeletten erfolgten.

Nordeuropäer und Afrikaner können Milch verdauen

Laktase heißt das Enzym, das im menschlichen Körper den Milchzucker verdauen hilft. Im Säuglingsalter liegt es beim Menschen in ausreichenden Mengen vor, wird aber nach dem Abstillen nur noch in viel geringerem Maße produziert, sodass Milch im Erwachsenenalter sehr schlecht physiologisch zu verwerten ist. So ist es auf der ganzen Welt, nur nicht in Europa und Teilen Afrikas. Vor allem die Bewohner Nordeuropas produzieren das Enzym Laktase über das Säuglingsalter hinaus, weshalb sie auch als Erwachsene Milch in größeren Mengen problemlos verarbeiten können. Ebenso verhält es sich bei einigen wenigen Bevölkerungen Afrikas, wo sich dieses Merkmal, das Laktasepersistenz genannt wird, wohl unabhängig von den Europäern ausgebildet hat.

Etwa 70 Prozent der Menschen in Norddeutschland, Skandinavien oder Holland weisen Laktasepersistenz auf. Die Häufigkeit nimmt nach Süden ab, sodass sie in Süditalien etwa gänzlich abwesend ist. Die Palaeogenetiker aus Mainz haben nun nachgewiesen, dass sich diese Verteilung erst in den letzten 8.000 Jahren und zwar als Folge natürlicher Selektion herausgebildet hat. Zusammen mit einem englischen Kollegen haben sie Skelette aus dem Meso- und dem Neolithikum mit molekulargenetischen Methoden untersucht – also aus der Phase, als die Menschen von Jägern und Sammlern zu Ackerbauern und Viehzüchtern wurden. Die Anthropologen stellten fest, dass das Merkmal der Laktasepersistenz zu dieser Zeit in Europa noch nahezu abwesend war.

Evolutionäre Erfolgsgeschichte

Die vor allem in Nordeuropa hohe Frequenz der Gegenwart muss also in Folge von natürlicher Selektion in der Zeit nach dem frühen Neolithikum entstanden sein. Als die ersten domestizierten Ziegen, Schafe und Rinder vor rund 8.000 Jahren nach Europa eingeführt wurden, konnte die Mehrzahl der frühen Bauern deren Milch folglich noch gar nicht verdauen. Die kleine Minderheit, die hierzu schon in der Lage war, erlebte von da an eine evolutionäre Erfolgsgeschichte. Aufgrund ihrer kleinen physiologisch-genetischen Variante wurde diese Minderheit jahrtausendelang von der Evolution derart bevorzugt, dass die Häufigkeit des Merkmals von nahezu Null bis auf über 70 Prozent gestiegen ist.

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Um die Proben vor Kontamination zu schützen, müssen im aDNA-Spurenlabor Schutzanzüge getragen werden. © AG Palaeogenetik

"Milch ist ein energiereiches Getränk, das außerdem noch reich an Kalzium ist", erklärt Martina Kirchner, die die prähistorische Laktasepersistenz im Spurenlabor für alte DNA in Mainz untersucht hat. "Mit Milch konnte die hohe Rate der Kindersterblichkeit nach dem Abstillen reduziert werden und außerdem konnten Jahre mit schlechter Ernte energetisch substituiert werden", ergänzt der Anthropologe Joachim Burger, Leiter der Arbeitsgruppe Palaeogenetik in Mainz.

Erster direkter Nachweis von positiver Selektion beim Menschen

Milchzucker physiologisch verwerten zu können, muss in der Vorgeschichte einen derart hohen evolutionären Vorteil bedeutet haben, dass die Forscher in diesem Zusammenhang von dem Gen mit der möglicherweise höchsten positiven Selektion im gesamten menschlichen Genom sprechen.

"Das ist der erste direkte Nachweis von positiver Selektion beim Menschen" betont der Populationsgenetiker Mark G. Thomas vom University College in London, Mitautor der Studie. Und tatsächlich muss Selektion in sehr hohem Maße stattgefunden haben, denn für die Ausbreitung eines Merkmals sind 8.000 Jahre in den Zeiträumen der Evolution sehr wenig. Möglicherweise haben kulturell- soziale Faktoren die biologische Evolution noch weiter angetrieben. Es sei gut denkbar, dass diejenigen neolithischen Viehbauern, die laktasepersistent waren, aufgrund ihrer wertvollen Milch- und Fleischressource nicht nur mehr Kinder ernähren, sondern zugleich mehr Prestige und Macht entfalten konnten, weshalb gesteigerter Wohlstand und hohe Nachkommenzahl sich von Generation zu Generation immer fester bei den Vieh- und Milchbauern etablieren konnten.

Vor gut einem Jahr konnte Burgers Team bereits zeigen, dass die frühen neolithischen Bauern nicht die Vorfahren der heutigen Europäer waren. Nun scheint es wahrscheinlich, dass die heutigen Nord- und Mitteleuropäer eine kleine Gruppe von Milch trinkenden Viehbauern des fünften vorchristlichen Jahrtausends als ihre Vorfahren bezeichnen können.

(idw – Universität Mainz, 27.02.2007 – DLO)

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