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Biologie

Kalk verändert Alpenvegetation für Jahrzehnte

Menschliche Eingriffe können alpine Ökosysteme langfristig stören

Thomas Spiegelberger untersucht Versuchsflächen oberhalb Grindelwald © Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Ökosysteme im Gebirge reagieren besonders unflexibel auf menschliche Eingriffe. Nach einer Störung finden sie nur sehr langsam – wenn überhaupt – zum ursprünglichen Zustand zurück. Die Ergebnisse eines weltweit einzigartigen Experiments zeigen, dass das Ausbringen von Kalk in den 1930er Jahren ausreichte, die artenreiche Alpweidenvegetation sowie die chemischen und mikrobiellen Bodeneigenschaften für Jahrzehnte zu stören.

Viele Weiden und Matten der höher gelegenen Alpen zeichnen sich im Vergleich zu den tieferen Lagen durch nährstoffarme und saure Böden aus. Deshalb sind in alpinen Gebieten wenig produktive, aber häufig umso artenreichere Pflanzengesellschaften besonders verbreitet. Vor über 70 Jahren startete der Berner Botaniker Werner Lüdi auf der Schynigen Platte ob Grindelwald (BE) Experimente, die sich heute als Glücksfall für die Umweltforschung erweisen, da sie einmalig langfristige Beobachtungen in einem emissionsfernen Gebiet ermöglichen.

Kalkdüngung vor 70 Jahren

Lüdi beabsichtigte auf seinen Versuchsflächen, die zuvor während Jahrhunderten beweidet worden waren, die geringe landwirtschaftliche Produktivität durch Düngung und Kalkung zu verbessern. Er unterzog die Versuchsflächen, auf denen die für solche Standorte typische Borstgras-Heide mit Pflanzenarten wie Arnika, Purpur-Enzian, Weissorchis oder Berg-Nelkenwurz gedieht, unterschiedlichen Behandlungen. Dazu gehörten mechanischen Eingriffe sowie Dünger- und Kalkgaben in zahlreichen Varianten.

Durch die Düngung und die Kalkung stellte sich tatsächlich innerhalb weniger Jahre ein produktiverer Vegetationstyp ein. Das Borstgras, aber auch attraktive und heute seltene Pflanzenarten wurden von Milchkraut oder Alpen-Rispengras verdrängt. Wie nun ein internationales Forschungsteam um Thomas Spiegelberger von der Universität Freiburg, Otto Hegg von der Universität Bern, und Urs Schaffner von der Organisation CABI Bioscience in Delémont in einem Artikel der renommierten Zeitschrift „Ecology“ zeigt, wirkt dieser Effekt auch nach mehreren behandlungsfreien Jahrzehnten noch nach. Die Studie wurde vom Nationalen Forschungsprogramm „Landschaften und Lebensräume der Alpen“ des Schweizerischen Nationalfonds unterstützt.

Säuregehalt des Bodens bis heute reduziert

Die überraschend langanhaltende Störung des Ökosystems führen die Autoren auf die Kalkgaben zurück – denn auf jenen Flächen, die einst nur gedüngt wurden, ist praktisch keine langfristige Wirkung mehr festzustellen. Chemische und mikrobiologische Untersuchungen des Bodens zeigen denn auch, dass die Behandlung mit Kalk vor über 70 Jahren nicht nur den Kalziumgehalt des Bodens bis heute erhöhte, sondern auch dessen mikrobielle Zusammensetzung veränderte. Dies führen die Forschenden darauf zurück, dass der Kalk bis heute den natürlichen Säuregehalt des Bodens reduziert.

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Die dadurch veränderte Mikroflora des Bodens macht die vorhandenen Nährstoffe besser verfügbar und begünstigt nährstoffbedürftige Pflanzen. Früher typische Arten haben dagegen markant abgenommen, Arnika bleibt bis heute praktisch verschwunden. Weil die Pflanzenüberreste durch die veränderten Bodenbedingungen relativ gut abgebaut und wieder aufgenommen werden, bleibt das erhöhte Nährstoffniveau lokal sehr lange erhalten. Mit Düngung allein – also ohne Kalk – konnte dieser Effekt nicht erreicht werden, da die eingebrachten Düngstoffe wieder ausgewaschen wurden.

Erkenntnisse über Folgen der Luftverschmutzung

Wie dieser weltweit einzigartige ökologische Langzeitversuch im Berggebiet zeigt, genügte eine Veränderung des Bodensäuregehaltes, um das Ökosystem für Jahrzehnte aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er bestätigt damit die theoretische Annahme, dass Ökosysteme im Gebirge besonders unflexibel auf menschliche Eingriffe reagieren, indem sie nach einer Störung – wenn überhaupt – nur sehr langsam zum ursprünglichen Zustand zurückfinden.

Die weitere Beobachtung der von Lüdi angelegten Flächen wird auch in Zukunft aufschlussreiche Erkenntnisse liefern. Dies umso mehr, als sich diese Versuchsanlage auf der Schynigen Platte in einem emissionsfernen Gebiet befindet, so dass vor dem überwältigenden Panorama von Eiger, Mönch und Jungfrau nicht nur Erkenntnisse über die Wirkung gezielter Düngung und Kalkung, sondern auch der generellen Luftverschmutzung auf alpine Ökosysteme auf saurem Boden möglich sind, da heute auf diesem Weg erhebliche Düngermengen – bis 80 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr – in den natürlichen Kreislauf gelangen und dort Veränderungen der Artenvielfalt bewirken.

(Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, 15.09.2006 – NPO)

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