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Biologie

Wild kein Waldkiller?

Einfluss von Reh, Hirsch und Gemse geringer als angenommen

Der Wildverbiss durch Reh, Hirsch und Gemse gilt seit ewigen Zeiten als eines der größten Probleme im Gebirgswald. Doch die etablierten Ansichten zur Rolle dieser Tiere im Wald müssen jetzt vermutlich deutlich relativiert werden. Forscher der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL haben gezeigt, dass das Wild nur einer von vielen Faktoren für das „Waldsterben von unten“, die Verjüngung und Veränderung der Artenzusammensetzung eines Waldbestandes, ist.

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Zu den schönsten Erlebnissen eines Waldspaziergangs gehört die Begegnung mit einem Reh, einem Hirsch oder einer Gemse. Für Forstleute hört der Spass aber dann auf, wenn zu viel Wild im Wald lebt. Für sie steht fest, dass das Wild den Wald frisst. Zu viele Huftiere im Wald seien ein Problem, weil sie die Sterblichkeit junger Bäume massiv erhöhen und dadurch die Artenzusammensetzung und Struktur des Waldes in eine von der Forstwirtschaft unerwünschte Richtung lenken. Nur: Stimmt dieser Vorwurf? Denn wissenschaftliche Beweise dafür lagen bisher nicht vor.

Deshalb haben Forscher um Josef Senn von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) den Einfluss des Wildes auf den Gebirgswald untersucht. Die Forschungsresultate förderten Überraschendes zutage: Das Wild ist nicht die einzige und mit Sicherheit nicht die wichtigste Ursache für die unbefriedigende Waldverjüngung und den geringen Anteil an Weißtannen im Schweizer Gebirgswald.

Mäuse schaden Weißtannen mehr als Wild

Die Wissenschaftler fanden keinen Zusammenhang zwischen der Anzahl verbissener Weißtannen und der Dichte und Alterszusammensetzung der Jungbäume. Beispielsweise schafften es im Untersuchungsgebiet Vorbergwald bei Sarnen besonders viele Weißtannen aus der Reichweite des Wildes emporzuwachsen – dies obwohl der Wald intensiv vom Wild genutzt wird.

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„Will man die Populationsdynamik der Weißtanne und die Verjüngungssituation im Wald verstehen, reicht es deshalb nicht, sich auf den Einflussfaktor ‚Huftier’ zu beschränken“, erklärt Senn. Mindestens genauso wichtig seien die Konkurrenz zwischen den Pflanzen um Platz und Licht sowie Trockenperioden während der Keimung. Ein großer Teil der Verluste an Weißtannen-Keimlingen scheint auch auf das Konto von Mäusen zu gehen. Die Forschenden konnten nämlich zeigen, dass die Häufigkeit verbissener Weißtannen bis 10 Zentimeter Höhe vom Vorkommen dieser kleinen Säugetiere abhing – und nicht von der Huftierdichte.

Auch die bisherige Praxis, junge Bäume mit verbissenen Trieben als todgeweiht anzusehen, muss hinterfragt werden. „Unsere Experimente haben ergeben, dass eine Weißtanne unter günstigen Lichtverhältnissen einen verbissenen Haupttrieb innerhalb von zwei Jahren vollständig kompensieren kann“, sagt Senn. Diese Fähigkeit zur Kompensation kann als Anpassung an einen potenziellen Verbiss interpretiert werden. Der Verbiss beeinflusst deshalb oft nur die Wachstumsgeschwindigkeit.

Waldentwicklung lange Zeit praktisch wildfrei

Ein großes Fragezeichen setzen die Forschenden auch hinter die Annahme der Forstwirtschaft, die geringen Anteile großer Weißtannen im Gebirgswald seien auf den Wildverbiss zurückzuführen. Senn weist darauf hin, dass die heute alten Bäume sich zu einer Zeit entwickelt haben, als es in den Schweizer Wäldern fast kein Wild gab.

Vor 100 Jahren waren Hirsch und Reh in der Schweiz ausgestorben, und Gemsen überlebten im Gebirge nur in geringen Dichten. Bis weit ins 20. Jahrhundert erfolgte die Waldentwicklung praktisch wildfrei. Anhand von alten Forstinventuren und Nutzungsaufzeichnungen konnten die Forschenden nachweisen, dass in diesem Zeitraum die Anteile der Weißtanne und vieler Laubbäume trotzdem abgenommen haben, während sich die Fichte ausbreitete.

Behindert wurde die Verjüngung und Ausbreitung der Weißtanne vor allem durch Eingriffe der Forstwirtschaft zugunsten der Fichte und die intensiv betriebene Waldweidewirtschaft. Von den Wissenschaftlern durchgeführte Forstinventuren in der Zentralschweiz deuten zudem darauf hin, dass in höheren Lagen auch in wenig genutzten Waldbeständen die Weißtanne von Natur aus nicht die von der Forstwirtschaft erhofften Anteile erreichen kann. „Die Angaben der potenziellen Tannenanteile beruhen auf illusorischen Annahmen, die selbst mit einer völligen Elimination des Wildes nicht erreicht werden können“, sagt Senn.

Die Forscher nehmen an, dass Wildtiere die zukünftige Waldstruktur nicht wesentlich beeinflussen werden. „Vielfältige Wälder mit einem großen Angebot an alternativer Nahrung können auch bei starkem Nutzungsdruck durch Wild erfolgreich eine neue Baumgeneration bilden“, erklärt Senn. Huftiere könnten die Waldentwicklung verlangsamen, die Richtung der Entwicklung jedoch nicht ändern.

(Schweizerischer Nationalfonds, 19.07.2006 – DLO)

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