Süßwassermuscheln leben in Flüssen und Seen auf der ganzen Welt. Nun hat ein Paläontologe des Museums für Naturkunde Berlin nachgewiesen, dass sich bei wechselnden Umweltbedingungen nicht nur die Form ihrer Schale verändert, sondern sie alternativ auch mit innovativen Erfindungen ihr Überleben sichern. Dies ist nicht nur bedeutend für das Verständnis heute lebender Muscheln, sondern erleichtert den Wissenschaftlern auch die Rekonstruktion der Umweltbedingungen vergangener Zeiten durch das Studium fossiler Muscheln.
Schon vor fast 100 Jahren hatten Wissenschaftler erkannt, dass sich Süßwassermuscheln der Ordnung Unionoida, wie in Deutschland beispielsweise die Maler- oder Teichmuschel, den Strömungsverhältnissen in einem Gewässer anpassen können. So führt eine hohe Fließgeschwindigkeit zu sehr stromlinienförmigen Schalen, während hingegen bei langsamen Strömungen die Muscheln der gleichen Art eher dreieckig im Schalenumriss sind. Dadurch sind die Tiere in der Lage, auch unter wechselnden Umweltbedingungen zu überleben. Es gibt jedoch einige unionoide Muscheln, die ihre Schalenform nicht in dem Maße ändern und trotzdem überleben – ein Phänomen, das sich bis heute niemand erklären konnte.
Muscheln im Malawisee
Einen Teil dieses Rätsels hat nun Henning Scholz vom Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität Berlin gelöst. Dazu untersuchte der Wissenschaftler die Schalenform von etwa 3.000 unionoiden Muscheln, die an etwa 30 Tauchpunkten entlang der Westküste des Malawisees in Ostafrika gesammelt wurden. Neben einer Muschelart, die ihre Schalenform in der oben beschriebenen Art und Weise an die Strömungsverhältnisse anpasst, gibt es zwei weitere Arten im See, die sich anders verhalten. Sie nutzen Innovationen, um unter unterschiedlichen Umweltbedingungen zu überleben. Eine solche Innovation ist beispielsweise ein Spalt im vorderen Teil der Schale. Durch diese Öffnung kann die Muschel ihren Fuß ausstrecken ohne die Schale zu öffnen. Dies ermöglicht ihr unter anderem die sichere Verankerung im Boden des Sees bei starkem Wellengang.
Der Fuß der Muscheln gilt als Universalwerkzeug schlechthin, wenn es um ihre Fortbewegung geht. Dazu streckt die Muschel ihren Fuß aus, pumpt ihn mit Blut voll und verankert ihn so im Boden. Mit Muskeln, die die Schale und den Fuß miteinander verbinden, zieht sich die Muschel dann selbst hinterher. Auch wenn die Tiere die meiste Zeit ihres Lebens versteckt im Boden des Gewässers verbringen, sind sie auf diese Weise in der Lage, ihren Wohnort zu wechseln und sich anderswo erneut einzugraben.
Zwei Strategien im Kampf ums Überleben
So konnte Scholz durch seine Studie über die Muscheln des Malawisees erstmalig zeigen, dass Tiere der gleichen Ordnung zwei unterschiedliche Strategien verfolgen, um mit wechselnden Umweltbedingungen umzugehen. Die erste Strategie basiert auf der Variabilität der Schalenform, während hingegen die zweite Strategie auf Innovationen wie dem „Fuß-Spalt“ basiert.
Weitere Untersuchungen in anderen Ökosystemen müssen nun zeigen, ob sich diese Ergebnisse vom Malawisee auch auf andere Regionen übertragen lassen. Aber schon jetzt wird deutlich, dass die Arbeiten von Scholz für die paläontologische Forschung sehr wichtig sind. Denn wenn einige dieser Muscheln ihre Schalenform in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen ändern, kann man im Umkehrschluss auch die Schalenform von fossilen Muscheln nutzen, die Umweltbedingungen längst vergangener Zeiten zu rekonstruieren. Aus diesem Grund wurde die Arbeit von Scholz für den Tilly-Edinger Nachwuchspreis 2005 der Paläontologischen Gesellschaft nominiert.
(Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin / Henning Scholz, 03.03.2006 – AHE)