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Umwelt

„Agenten“ helfen Ökologen

Neues Modell agentenbasierter Systeme realistisch auch bei hoher Komplexität

Modell eines tropischen Urwalds © UFZ

Kunden im Supermarkt, Makler an der Börse oder Bäume im Wald – sie alle sind Agenten. Nicht im Sinne einer Verschwörungstheorie, wohl aber für die Wissenschaftler, die damit Individuen aller Art beschreiben, um sie und ihr Verhalten besser modellierbar zu machen. Ein neues Verfahren haben Leipziger Forscher jetzt in „Science“ beschrieben und in einer ökologschen Modellierung eingesetzt.

Beim Wort Agent denken viele an James Bond, den Geheimagenten im Dienste ihrer Majestät. Was macht aber 007 überhaupt zu einem Agenten? „Er hat einen Auftrag, aber wie er diesen Auftrag erfüllt, ist ihm selbst überlassen. Er agiert autonom und passt seine Entscheidungen den jeweiligen Umständen an. Und das ist es, was wir auch für die Agenten der Ökologie annehmen, die einzelnen Organismen. Sie haben den Auftrag ihre Gene weiterzugeben, also möglichst viele überlebende Nachkommen zu erzeugen“, erklärt Volker Grimm, Wissenschaftler am Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle (UFZ).

„Die Organismen müssen selbst entscheiden, wie sie ihr Ziel erreichen: Bin ich hungrig, dann muss ich das Risiko in Kauf nehmen, bei der Nahrungssuche gefressen zu werden. Bin ich satt, dann bleibe ich lieber in Sicherheit“ so Grimm. Allen Agenten, ob James Bond, Autofahrer oder Braunbär, ist gemeinsam, dass sie diskrete autonome Einheiten sind, die ein Ziel verfolgen und die ihre Entscheidungen an ihre Umgebung anpassen.

Komplexität vereinfacht und trotzdem realistisch

Agentenbasierte Systeme sind meist so komplex, dass sie nur in einzelnen Aspekten beschreibbar sind. Niemand ist beispielsweise in der Lage, die komplette Entwicklung einer Millionenmetropole mit allen sozialen und ökonomischen Aspekten im Computer zu simulieren. Einzelne Aspekte wie beispielsweise der Wasserverbrauch dagegen sind in Modellen darstellbar.

Doch wie überall im Leben stecken auch hier die Tücken im Detail. Modelle sind nur dann wirklich brauchbar, wenn sie nicht zu komplex sind. Die jetzt von den Forschern entwickelte neue Strategie führt zu Modellen, die realistisch sind und trotzdem einfach genug, um verstanden zu werden. „Wissenschaft fängt dann an, wenn ich irgendeine Regelmäßigkeit sehe. Wir müssen nur lernen, die Muster zu sehen. Das Besondere bei komplexen Systemen ist, dass es dort nicht mehr ausreicht, sich nur auf ein einziges Muster zu konzentrieren“ erklärt Grimm.

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Bäume als Agenten

Ein Beispiel für solche Modelle ist ein simulierter Urwald. Niemand weiß, wie die Urwälder aussahen, die die Germanen einst vorfanden. Ursprüngliche Wälder gibt es im heutigen Deutschland nicht mehr. Doch wie lassen sich Wälder gestalten, die ihrem Original möglichst ähneln? Und wie sollte eine möglichst naturnahe Bewirtschaftung aussehen? Fragen, die mit einem Praxisexperiment nur schwer zu beantworten sind. Immerhin dauert ein kompletter Zyklus von Heranwachsen, Gedeihen und Verfallen im Buchenwald rund 250 Jahre. Computermodelle können dieses Dilemma lösen: Muster aus Resturwäldern in der Slowakei sowie das reichhaltige Erfahrungswissen der Förster über das Schicksal einzelner Buchen wurden verwendet, um ein einfaches und doch realistisches Buchen-Urwaldmodell zu entwickeln.

Der Aufwand für das Entwickeln und Testen derartiger Modelle kann, wie zum Beispiel im Fall eines Modells für artenreiche Tropenwälder, erheblich sein und Jahre in Anspruch nehmen. Aber es lohnt sich. „Wir verwenden die überprüften Modelle als virtuelle Laboratorien“, erzählt Grimms Kollege Andreas Huth. „Beim Tropenwaldmodell können wir so mit der gedachten Kettensäge alle 10, 20 oder 30 Jahre durch den Modellwald gehen und einen bestimmten Prozentsatz der Bäume ernten, und dann schauen wir einfach, wie der Wald darauf reagiert. So finden wir heraus, wie man den Wald nachhaltig bewirtschaften kann, so dass auch künftige Generationen ihn nutzen können, sei es für Holz oder andere Zwecke.“

Musterorientierte Modelle haben die Wissenschaftler des UFZ auch entworfen, um die Ausbreitung der Braunbären in Österreich, die Wiedereinbürgerung des Luchses in Deutschland, oder die Tollwutgefahr durch infizierte Füchse vorherzusagen. Bei der Tollwutmodellierung geht es beispielsweise darum, die beste Bekämpfungsstrategie zu ermitteln und zu untersuchen, wie viele Impfköder überhaupt notwendig sind. Inzwischen ist die Tollwut in Deutschland fast ausgerottet. Trotzdem besteht die Gefahr, dass sie durch infizierte Füchse aus den Nachbarländern wieder eingeschleppt werden kann. Auch in Osteuropa sollen in den nächsten Jahren die Füchse per Köder geimpft werden. Per Computermodell wollen die UFZ- Wissenschaftler deshalb testen, wie das am kostengünstigsten geschehen kann.

Eine neue Systemtheorie?

„Es gab immer wieder Versuche, eine allgemeine Systemtheorie aufzustellen. Diese waren oft von stark vereinfachenden mathematischen Ansätzen geprägt.“ Für agentenbasierte Systeme sei dieser Ansatz zu unflexibel, meint Grimm, der die neue Strategie als Vorbild sieht: „Es ging uns darum, über den ökologischen Tellerrand hinauszuschauen und zu Kollegen aus anderen Wissenschaftsdisziplinen zu sagen: Wir haben eine Strategie. Sie kann auch bei Systemen mit menschlichen Agenten zu Modellen führen, die das innere Gerüst dieser Systeme offen legt, so dass wir sie besser verstehen und steuern können.“

Im Hinblick auf eine allgemeine Theorie agentenbasierter Systeme ist Grimm optimistisch: „Die musterorientierte Modellierung fasst gerade erst Fuß und wir erwarten eine schnelle Entwicklung in der Zukunft.“ Wahrscheinlich muss für eine neue Systemtheorie unsere Vorstellung von „Verstehen“ modifiziert werden. Die amerikanischen Sozialwissenschaftler Epstein und Axtell jedenfalls vermuteten schon 1996, dass wir eines Tages vielleicht die Frage: „Kannst du es erklären?“ interpretieren werden als „Can you grow it?“, das heißt, sind wir in der Lage, das zu Erklärende im Computer „wachsen“ zu lassen? Musterorientiertes Modellieren könnte nach Ansicht von Grimm und Huth entscheidend zu diesem „Wachsen lassen“ virtueller Welten beitragen.

(Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle (UFZ), 14.11.2005 – NPO)

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