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Neurobiologie

Scheitellappen als „Sinnesküche“

Gehirnregion führt unterschiedliche Reize und ihre Ortung zusammen

Wir nehmen unsere Umwelt über verschiedene Sinneskanäle wahr: Sehen, Hören, Fühlen, Gleichgewichtssinn, Schmecken und Riechen. Die Zuordnung der verschiedenen Signale zu einem einzelnen Objekt geschieht im Gehirn. Wo und wie dies abläuft, haben Bochumer und Marburger Forscher herausgefunden.

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Unser tägliches Leben ist zwar durch das Sehen dominiert, doch können wir uns auch über das Hören oder das Fühlen in der Welt orientieren. Was uns an diesem Umstand als trivial erscheint, beruht in Wahrheit auf komplizierten Verschaltungen im Gehirn, die noch weitestgehend unverstanden sind. Vor allem die Tatsache, dass Signale aus den unterschiedlichen Sinnessystemen – Sehen, Hören, Fühlen, Gleichgewichtssinn, Schmecken und Riechen – zunächst an unterschiedlichen Orten im Gehirn verarbeitet werden, macht schon auf den ersten Blick deutlich, dass es sich bei der Verarbeitung dieser Reize vermutlich um aufwändige neuronale Prozesse handeln muss.

Scheitellapppen führt Reize zusammen

In der Tat haben verschiedene neurowissenschaftliche Experimente in der Vergangenheit zeigen können, dass ein bestimmter Bereich des Cortex, der so genannte hintere Scheitellappen (Posteriorer Parietal-Cortex, PPC), maßgeblich für eine intakte multisensorische Wahrnehmung der Welt ist. So konnten Patientenstudien zeigen, dass die Schädigung des PPC ein charakteristisches Verhaltensdefizit zur Folge hat.

PPC-Patienten nehmen Objekte in dem Teil des Raumes, der der Läsion gegenüber liegt, nicht wahr, obwohl ihre Augen intakt und die ersten Schritte der visuellen Signalverarbeitung unbeeinträchtigt sind. In einigen bestimmten Fällen essen Patienten nicht von der linken Seite des Tellers, oder sie stoßen häufig mit ihrer linken Schulter gegen Türrahmen oder andere Hindernisse. Interessanterweise haben PPC-Patienten jedoch nicht nur Defizite bei der Wahrnehmung visueller Reize. Vielmehr ist auch die Wahrnehmung akustischer und taktiler (Berührungs-) Reize davon betroffen. Nicht zuletzt aufgrund solcher neuropsychologischer Befunde geht man davon aus, dass der Parietalcortex der Verarbeitung so genannter multisensorischer Reize dient.

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Auf den Menschen übertragbar

Diese und ähnliche Befunde zur Funktionsweise des PPC dienten der Gruppe um den Marburger Neurophysiker Professor Dr. Frank Bremmer bei ihrer tierexperimentellen Arbeit, die gemeinsam mit Kollegen an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde, als Ausgangspunkt. Die Neurowissenschaftler gingen der Frage nach, ob Nervenzellen in einem bestimmten Bereich des PPC, dem so genannten ventralen intraparietalen Areal (VIP), sowohl auf visuelle wie auch auf akustische Reize antworten.

Das Areal VIP im Cortex des Rhesusaffen wurde als Zielareal gewählt, weil die Bochum- Marburger Wissenschaftlergruppe zuvor in einer bildgebenden Studie nachweisen konnte, dass das Areal VIP bei Makaken wie auch bei Menschen existiert. Die Neurowissenschaftler zeigten, dass Versuchsergebnisse, die man tierexperimentell gewinnt, auch auf den Menschen übertragen werden können.

Erst Reiz-Kombination löst Reaktion aus

In ihrer aktuellen Arbeit konnte die Gruppe um Bremmer erstmals zeigen, dass in der Tat mehr als 80 Prozent der Nervenzellen in diese Gehirngebiet auf akustische Reize reagieren. Die Bedeutung des Befundes wird durch die Tatsache verstärkt, dass die Nervenzellen nur dann antworten, wenn sich akustische oder visuelle Reize an einem identischen Raumort befinden. Übertragen auf ein Beispiel bedeutet dies, dass Zellen nur dann antworten, wenn das Bild eines Autos am selben Raumort erscheint wie das Motorengeräusch.

Wahrnehmungsfeld verlagert sich mit den Reizen

Im täglichen Leben führen wir sehr häufig – häufiger als unser Herz schlägt – schnelle, ruckartige Augenbewegungen aus. So gleiten beim Lesen dieser Zeilen die Augen nicht kontinuierlich über den Text, sondern es ergibt sich ein abwechselndes Muster von Augenbewegungen (so genannte Sakkaden) und Phasen des Augenstillstandes (Fixation). Trotz ihrer Bewegung auf der Netzhaut nehmen wir in solchen Situationen die Objekte der Umwelt als ruhig und stabil wahr.

Bremmer und Kollegen stellten sich daher im letzten Teil ihrer Arbeit die Frage, ob das Bezugssystem, in dem die unterschiedlichen Sinnesreize eines Objektes kodiert werden, identisch ist. Und überraschenderweise konnten die Neurowissenschaftler tatsächlich zeigen, dass es in Area VIP des Makaken Zellen gibt, deren Wahrnehmungsfeld für akustische Reize sich bei Verlagerung der Augen auch im Raum verlagert. All dies, obwohl doch die Ohren und der Kopf unbewegt im Raum verharrten.

(Universität Marburg, 11.10.2005 – NPO)

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