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Neurobiologie

Wie optimal ist unsere Wahrnehmung?

Anpassung der Sinnessysteme an die Umwelt erstmals quantitativ erforscht

Unsere Sinnessysteme haben sich im Verlauf der Evolution optimal an die natürlichen Reize angepasst. So lautet zumindest eine weitverbreitete Meinung der Neurobiologie. Doch ist dies tatsächlich der Fall? Verarbeiten Nervenzellen am besten diejenigen Sinnesreize, die besonders häufig vorkommen? Oder spielen andere Organisationsprinzipien eine wichtigere Rolle? Wissenschaftler haben jetzt ein Verfahren entwickelt, mit dem diese Frage erstmals quantitativ untersucht werden kann.

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Wahrnehmung ist teuer – das Gehirn verschlingt 10 bis 20 Prozent unserer metabolischen Energie, wobei die Sinnesorgane und nachgeschalteten Nervennetzwerke einen beträchtlichen Anteil am Energieverbrauch haben. Deshalb wird schon seit Jahrzehnten vermutet, dass diese lebenswichtigen Systeme so optimiert sind, dass sie Informationen über die sensorische Umgebung eines Tieres möglichst effizient übertragen.

Wie wichtig sind seltene Sinnesreize?

Einzelne Experimente haben gezeigt, dass beispielsweise Sehsinneszellen dann besonders präzise sind, wenn Lichtreize eine mittlere Intensität haben, also häufig auftreten. Dagegen werden sehr schwache oder sehr starke Reize viel ungenauer in Nervensignale umgesetzt. Dieses Ergebnis stimmt mit den Vorhersagen der Informationstheorie exakt überein und erscheint auch sinnvoll – warum sollte das Nervensystem seltene Ereignisse mit höchster Genauigkeit verarbeiten?

Umgekehrt gibt es jedoch seit langem Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieser Ergebnisse: Selbst ein seltener Sinnesreiz, wie beispielsweise ein weitgehend durch andere Objekte verdeckter Umriss eines Raubtieres, kann ja für das Überleben eines Beutetieres von höchster Bedeutung sein, so dass es sich sehr wohl auszahlen würde, in die präzise neuronale Kodierung solcher Signale zu investieren.

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Um zu untersuchen, welche der beiden Strategien verwirklicht ist, könnte man einem Tier verschiedene Sinnesreize präsentieren, die in seiner natürlichen Umgebung unterschiedlich häufig vorkommen. Aus der Zuverlässigkeit der jeweiligen neuronalen Antworten könnte dann abgeschätzt werden, welcher Reiztyp besonders gut verarbeitet wird. Da jedoch gerade seltene Reize in astronomisch hoher Anzahl vorkommen, kann immer nur ein verschwindender Bruchteil dieser Reize getestet werden.

„Zoom“ auf Sinneszreiz als Untersuchungsmethode

Zusammen mit Christian Machens (Cold Spring Harbor), Tim Gollisch

(Boston) und Olga Kolesnikova (Moskau) hat Professor Andreas Herz von der Humboldt-Universität zu Berlin nun ein neuartiges Verfahren entwickelt, das mit einem geschickten Trick diese Schwierigkeiten umgeht. Dabei wird das Antwortverhalten des untersuchten Sinnessystems auf bereits bekannte Reize verwendet, um künstlich neue Reize zu erzeugen, die mit noch höherer Genauigkeit übertragen werden. Wiederholt man diese Schleife von Reiz und Reaktion, so entstehen immer bessere Reizmuster – das Experiment „zoomt“ sich von selbst auf die optimalen Sinnesreize ein.

Entscheidend für den Erfolg der Methode ist dabei, dass die vielen Reiz-Reaktionsschleifen an einzelnen Nervenzellen durchgeführt werden können; die Auswertung der neuronalen Antworten und die Erzeugung der neuen Reize geschehen also on-line während eines laufenden Experiments. Herz und seine Mitarbeiter schafften dies mit Hilfe von besonders schneller Soft- und Hardware bei der Computersteuerung ihrer neurophysiologischen Experimente.

Heuschreckengehör als Muster

Diese Experimente wurden an Hörsinneszellen von Heuschrecken durchgeführt, einem Modellsystem für die neuronale Verarbeitung akustischer Signale. Hier fand der Algorithmus, dass Schallreize dann besonders gut kodiert werden, wenn sie rasche und starke Intensitätsschwankungen aufweisen. Solche Reize sind im Spektrum der Geräusche, die Heuschrecken typischer Weise hören eher selten. Sie ähneln jedoch dem Beginn einzelner „Silben“ im Balzgesang der Heuschrecken. Aus früheren Untersuchungen ist bekannt, dass die Struktur dieser Silbenmuster von weiblichen Heuschrecken benutzt werden kann, um die Fitness männlicher Gesangspartner abzuschätzen.

Die neuen Ergebnisse zeigen, dass das Hörsystem nicht global an die Statistik aller natürlichen Reize angepasst ist, sondern vielmehr spezifisch auf die biologisch relevanten Reize hin orientiert ist. Damit konnte eine alte neurobiologische Frage erstmals quantitativ an einem modellhaften Sinnessystem beantwortet werden. Dieser Durchbruch war möglich, weil für die Untersuchungen computergestützte Experimente direkt mit modernen Methoden der Datenanalyse und Informationstheorie kombiniert wurden – wie dies typisch für das Herangehen der „Computational Neuroscience“ ist. Weiterführende Studien an anderen Sinnesmodalitäten und Spezies werden sicher bald folgen.

(Humboldt-Universität Berlin, 05.08.2005 – NPO)

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