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Neurobiologie

Rasante Fliegen mit perfektem Bewegungssehen

Rasche Anpassung von Nervenzellen im Fliegenhirn nachgewiesen

Blick in das Gehirn der Schmeißfliege © Max-Planck-Institut für Neurobiologie

Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Neurobiologie simulieren schon seit einiger Zeit in Computer-Modellen die Verschaltungen von Nervenzellen und überprüfen sie anschließend am einfachen Sehzentrum der Schmeißfliege „in natura“. Gemeinsam mit Haim Sompolinsky von der Hebräischen Universität in Jerusalem haben Alexander Borst und Virginia Flanagin dabei nun erstmals entdeckt, dass die extrem schnelle Anpassung der Nervenzellen des Sehzentrums ein wichtiger Mechanismus des Bewegungssehens ist. Die Ergebnisse revidieren bisherige Theorien über die Adaptation des Bewegungssehens und könnten für andere sensorische Systeme neue Erkenntnisse liefern.

Wir alle kennen das Phänomen: Wenn wir aus einem dunklen Zimmer hinaus ins helle Sonnenlicht treten, sind wir geblendet. Wir kneifen die Augen zusammen und schatten sie mit der Hand ab. Bis zu einer Minute und länger dauert es bis wir wieder richtig sehen. Dasselbe auf dem umgekehrten Weg: Wenn wir einen dunklen Raum betreten, müssen wir erst stehen bleiben und warten, bevor die Konturen der Gegenstände wie aus dem Nichts hervorzutreten beginnen.

So wie sich unsere Augen auf verschiedene Lichtbedingungen einstellen, so kann sich das Bewegungs-Sehsystem, welches darauf spezialisiert ist, die Bewegung vor unseren Augen nach ihrer Richtung zu unterscheiden, an verschiedene Bedingungen anpassen. Im Gegensatz zur Anpassung an die Helligkeit geschieht das aber sehr viel schneller. Bei Fliegen innerhalb einer Sekunde.

Anpassung an verschiedene Umweltbedingungen möglich

Biologen bezeichnen die oben beschriebenen Vorgänge der Anpassung an verschiedene Umweltbedingungen allgemein als Adaptation. Durch Adaptation wird sichergestellt, dass unsere Sinnessysteme auch unter wechselnden Bedingungen voll funktionstüchtig bleiben und stets mit maximaler Empfindlichkeit ein Maximum an Information an nachgeschaltete Nervenzentren weiterleiten.

Bislang waren die Wissenschaftler der Auffassung, dass der Änderung der Empfindlichkeit stets eine Anpassung der Verarbeitungsparameter in den beteiligten Nervensystemen zugrunde liegt, beispielsweise eine Veränderung der Zeitkonstante. Borst und Kollegen konnten jedoch zeigen, dass die Adaptation beim Bewegungssehen von Fliegen nicht notwendigerweise eine solche Neueinstellung der Systemparameter erfordert: das Auswerte-System leistet dies automatisch, und erfolgt deshalb so rasch.

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Komplexe Verrechnung von Bildern

Bewegungssehen beruht auf der komplexen Verrechnung von Bildern, die über die Netzhaut wandern und die Rezeptoren reizen. Dabei müssen die bewegten Bilder, die durch unsere Eigenbewegung auf der Netzhaut hervorgerufen werden, und die bewegten Bilder, die durch die Bewegung von Objekten vor einem statischen Hintergrund entstehen, unterschieden werden. Die Bewegungsinformationen werden in den Sehzentren des Gehirns, die den Lichtrezeptoren in der Netzhaut übergeordnet sind, verrechnet. Diese Verrechnungen lassen sich in Form von Schaltplänen darstellen und im Computermodell simulieren.

Am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried befassen sich die Forscher mit der Schmeißfliege, einer Spezialistin für Bewegungssehen. Ihr gesamtes visuelles System im Gehirn besteht aus nur wenigen hundert Tausend Nervenzellen und bleibt damit einigermaßen überschaubar, im Gegensatz zu den vielen Milliarden Nervenzellen des menschlichen Sehzentrums.

Bereits im vergangenen Jahr konnte Borst und sein Kollege Jürgen Haag zusammen mit Winfried Denk vom Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg nachweisen, dass das Bewegungssehen der Fliege sehr gut mit dem Schaltplan des so genannten „Reichardt-Detektors“ beschrieben werden kann. Dieser Detektor wurde schon vor Jahrzehnten im Modell postuliert.

Die Bewegungsrichtung eines Objektes kann von der Fliege wahrgenommen werden, indem die Informationen von jeweils zwei benachbarten Facetten des Fliegenauges miteinander verrechnet werden: Ein sich von links nach rechts bewegendes Objekt ruft zunächst bei der einen Facette und anschließend bei der benachbarten Facette ein Signal hervor. Diese Signale werden unterschiedlich gefiltert und anschließend miteinander verrechnet, sodass das Ergebnis direkt korreliert mit der Geschwindigkeit der Bewegung, die von der Fliege wahrgenommen wird.

Wie funktioniert die Adaptation auf unterschiedliche Geschwindigkeitsbereiche?

Zusätzlich zum Mechanismus der Bewegungsdetektion konnten Borst und seine Kollegen auf der Basis ihrer jüngsten Untersuchungen erklären, wie die Adaptation auf unterschiedliche Geschwindigkeitsbereiche funktioniert. Die Wissenschaftler registrierten dazu die Reaktion der für Bewegungsreize empfindlichen H1-Zelle. Diese Zelle verbindet zwei Teile im Sehsystem der Fliege, nämlich die so genannten Lobula-Platten in der linken und rechten Hälfte des Fliegenhirns. Der Fliege wurde im Experiment ein Streifenmuster gezeigt, das sich mit einer bestimmten Geschwindigkeits-Verteilung bewegte.

Je größer die Schwankungen um die mittlere Geschwindigkeit des Streifenmusters waren (d.h. je breiter die Geschwindigkeits-Verteilung), desto unempfindlicher reagierte die Zelle auf die jeweiligen aktuell gezeigten Geschwindigkeiten. Diese Anpassung an die veränderte Statistik der Geschwindigkeits-Reize erfolgte aber im Sehsystem der Fliege so schnell, dass die Wissenschaftler sie nicht durch die früher gängigen Modelle der Adaptation erklären konnten.

„Wir mussten unsere bisherigen Vorstellungen von Adaptation aufgeben“, berichtet Borst. „Nachdem wir die Experimente in einem Computer-Modell des Fliegen-Sehsystems bestehend aus Reichardt-Detektoren simuliert hatten, konnten wir feststellen, dass die Adaptation beim Bewegungssehen der Fliege ohne irgendeine Veränderung der so genannten intrinsischen Faktoren, wie z. B. der Zeitkonstanten, auskommt, also gewissermaßen automatisch funktioniert.“

Das Ergebnis der Modell-Simulationen bedeutet, dass das bisherige Verständnis von Adaptation neu überdacht werden muss. „Es ist durchaus möglich, dass wir mit unserem Ergebnis auch für die Adaptation in anderen Sinnessystemen völlig neue Erklärungen liefern könnten“, so Borst in der aktuellen Ausgabe von PNAS. Der Neurobiologe ist fest davon überzeugt, dass Computer-Modelle für die Sinnesphysiologie unerlässlich sind, um die hochfeinen Regulationen und Abläufe zu verstehen, die sich die Natur ausgedacht hat.

(MPG, 13.04.2005 – DLO)

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