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Neurobiologie

Skurril: Blinde Frau kann sehen

Blinde Patientin nimmt keine Objekte oder Farben, wohl aber Bewegungen wahr

Sehen trotz Blindheit - ein rätselhaftes Phänomen © Freeimages

Doch nicht ganz blind: Neurowissenschaftler haben das Gehirn einer Frau untersucht, die blind ist – aber trotzdem sehen kann. Bei der Patientin ist ein Großteil des Sehzentrums zerstört. Dennoch nimmt sie bestimmte Dinge ganz bewusst wahr, sie sieht sich bewegende Objekte. Die Erklärung: Das Gehirn der Blinden hat Wege gefunden, die defekten Bereiche zu umgehen und visuelle Bewegungsreize über Umwege weiterzuleiten – ein eindrückliches Beispiel für die Plastizität des menschlichen Denkorgans.

Eigentlich scheint die Sache klar: Wenn wir sehen, erzeugen Auge und Gehirn Abbilder der Umwelt in unserem Kopf. Funktioniert das Auge nicht oder ist das Sehzentrum im Gehirn zerstört, klappt dies nicht mehr – wir sind blind. Oder doch nicht? Rätselhafterweise gibt es Menschen, die eindeutig blind sind, aber trotzdem sehen. Diese „Blindseher“ umgehen instinktiv Hindernisse oder greifen unerklärlich zielsicher nach Objekten. Kurzum: Sie scheinen auf bestimmte optische Reize sehr wohl zu reagieren, wenn auch oft unbewusst.

Ein wippender Pferdeschwanz

Von einem besonders außergewöhnlichen Fall des Blindsehens berichten nun Neurowissenschaftler um Michael Arcaro von der Harvard Medical School in Boston: Die 48-jährige Schottin Milena Canning ist nach einer schweren Atemwegsinfektion und mehreren Schlaganfällen vor 18 Jahren blind aus dem Koma erwacht. Nach kurzer Zeit stellte sie jedoch fest, dass ihr Augenlicht offenbar nicht völlig verloren war.

So nahm die Patientin plötzlich das Glitzern einer Geschenktüte wahr. Sie sah den wippenden Pferdeschwanz ihrer Tochter, aber nicht deren Gesicht, den an der Fensterscheibe herunterlaufenden Regentropfen, aber nicht das, was hinter der Scheibe war. Bis heute kann die erblindete Frau Dinge sehen, wenn sie eine Bedingung erfüllen: Sie müssen sich bewegen. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?

Milena Canning: Die blinde Frau, die Bewegungen sehen kann.© University of Western Ontario

Neuronale Umleitung

Um das herauszufinden, führten Arcaro und seine Kollegen einige Tests mit Canning durch: Wie würde sie auf sich bewegende Objekte reagieren und was würde dabei in ihrem Gehirn passieren? Es zeigte sich: Canning konnte im Experiment zum Beispiel die Bewegung, Größe und Geschwindigkeit eines Balls wahrnehmen, der auf sie zurollte – und diesen im richtigen Moment zielsicher ergreifen. Nach der Farbe des Objekts gefragt, konnte sie jedoch keine eindeutige Antwort geben.

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Ein Blick ins Gehirn mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie gab schließlich das Geheimnis der Patientin preis: „Canning fehlt im hintersten Teil des Großhirns Gewebe in der Größe eines Apfels – fast ihr gesamter Occipitallappen funktioniert nicht mehr“, berichtet Mitautorin Jody Culham von der University of Western Ontario im kanadischen London. Dieser Hirnbereich ist dafür zuständig, visuelle Impulse zu verarbeiten. Trotz des Defekts in diesem Sehzentrum hat Cannings Gehirn jedoch Wege gefunden, visuelle Abbilder zu erzeugen: Es umgeht die geschädigten Bereiche einfach.

Beeindruckende Anpassungsleistung

„Bildlich gesprochen führt die Autobahn des visuellen Systems bei Milena in eine Sackgasse. Doch sie hat Nebenwege gefunden, mit der sie diese Autobahn umfahren und auf diese Weise trotzdem einige visuelle Reize – insbesondere Bewegung – in andere Bereiche des Gehirns transportieren kann“, erklärt Culham. Wie die Wissenschaftler berichten, ist dieses Phänomen des Blindsehens von Bewegungen auch als Riddoch-Syndrom bekannt und äußerst selten.

„Unsere Arbeit liefert womöglich die bisher vollständigste Charakterisierung des visuellen Systems einer einzelnen Person“, sagt Culham. Ihrer Ansicht nach stellt diese Analyse vor allem eines eindrücklich unter Beweis: die erstaunliche Plastizität und Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns.

Der Fall der Milena Canning zeigt zudem, dass unsere konventionellen Definitionen von „Sehen“ und „Blindheit“ viele Dinge überhaupt nicht erfassen können: „Patienten wie Milena lassen uns erahnen, was möglich ist – und wie visuelle und kognitive Funktionen zusammenhängen“, schließt Culham. (Neuropsychologia, 2018; doi: 10.1016/j.neuropsychologia.2018.05.008)

(University of Western Ontario, 13.06.2018 – DAL)

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