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Neurobiologie

Morgens und abends sehen wir besser

Die Verarbeitung visueller Reize im Gehirn ist von der inneren Uhr abhängig

Auch das Sehvermögen hängt von der inneren Uhr ab. © nastia11 / iStock.com

Zirkadianes Sehen: Forscher haben entdeckt, dass wir Menschen morgens und abends am besten sehen können. Hirnscans zeigen, dass das visuelle System des Gehirns zur Dämmerung seine Ruheaktivität runterfährt. So gehen schwache Sehreize nicht im ständigen Hintergrundrauschen des Gehirns verloren, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature Communications“ berichten. Diese Anpassung könnte unseren Vorfahren dabei geholfen haben, nachtaktiven Raubtieren zu entkommen.

Viele unserer Körperfunktionen folgen dem Wechsel von Tag und Nacht. Dabei steuert unsere innere Uhr nicht nur unsere Wach- und Schlafenszeiten, auch das Immunsystem, der Hormonhaushalt, selbst unsere Angriffslust folgen dem Tag-Nacht-Rhythmus. Als innere Taktgeber dienen dabei Uhrengene in den Zellen, die mit einem zentralen Taktgeber im Gehirn synchronisiert sind.

Unklar war aber bisher, ob auch unsere visuelle Wahrnehmung im Tagesrhythmus schwankt. „Das Vorwegnehmen von Veränderungen im Tageslicht ist für das Überleben entscheidend“, erklären Lorenzo Cordani von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und seine Kollegen. Denn wenn sich beispielsweise unsere Sehkraft an das schummrige Licht der Dämmerung anpasst, können wir Raubtieren und anderen Gefahren leichter entgehen.

Sechsmal am Tag zum Sehtest

Ob unser Sehvermögen nicht nur den tatsächlichen Lichtbedingungen, sondern auch dem Takt der inneren Uhr folgt, haben die Forscher nun untersucht. Dafür schoben sie 14 freiwillige Probanden in den Kernspintomografen, zu sechs verschiedenen Tageszeiten zwischen 8 Uhr morgens und 23 Uhr abends. Dabei scannten sie die Aktivität der visuellen Hirnareale, erst im absoluten Ruhezustand, dann während eines Sehtests.

Anschließend setzten die Forscher das Sehvermögen der Probanden ins Verhältnis mit der Ruheaktivität des Gehirns. Denn dort herrscht auch beim völligen Fehlen äußerer Reize ein gewisses „Grundrauschen“. Diese Hintergrundsignale durchströmen ständig das Gehirn und können die Wahrnehmung äußerer Reize stören.

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Ruheaktivität sinkt, Sehvermögen steigt

Das Ergebnis: Das Sehsystem des Gehirns passt sich offenbar tatsächlich an den Tagesrhythmus an: Die Hirnscans zeigten, dass das Gehirn seine Ruheaktivität in den sensorischen Arealen während der Morgen- und Abenddämmerung selbständig herunterregulierte. Um 8 Uhr morgens und 20 Uhr abends war das Grundrauschen am niedrigsten, wie die Forscher feststellten.

Wie sich dies auswirkt, enthüllten die Sehtests: Morgens und abends schnitten die Probanden am besten ab. Tagsüber zwischen 11 und 17 Uhr machten sie dagegen die meisten Fehler. Das bedeutet: In den eher lichtarmen Dämmerungsphasen konnten die Probanden am besten sehen. Gleichzeitig sind dies auch die Zeiten, in denen das Gehirn sein Grundrauschen verringert.

Geschärfte Sinne

Nach Ansicht der Forscher ist dies kein Zufall. „Es handelt sich um einen antizipatorischen Mechanismus, der die verschlechterte Signalqualität in der Morgen- und Abenddämmerung ausgleicht“, so Cordani und seine Kollegen. Das Gehirn, gesteuert von der inneren Uhr, sorgt demnach dafür, dass in der Dämmerung das Signal zu Rauschen-Verhältnis optimiert wird – und das verbessert die Wahrnehmung.

Zur Dämmerung nimmt die Ruheaktivität aber nicht nur in visuellen Hirnarealen ab. Auch in auditorischen und somatosensorischen Hirnregionen sank das Grundrauschen auf ein geringeres Level. Die Forscher vermuten deshalb, dass unsere gesamte Wahrnehmung, auch Hör- und Tastsinn, zu diesen Zeiten geschärft sind.

Das könnte unseren Vorfahren, vor der Zeit des künstlichen Lichts, dabei geholfen haben nachtaktiven Raubtieren zu entkommen. Wer trotz schwachem Licht noch etwas erkennen konnte, hatte einen evolutionären Vorteil. (Nature Communications, 2018; doi: 10.1038/s41467-018-03660-8)

(Goethe-Universität Frankfurt am Main, 13.04.2018 – YBR)

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