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Neurobiologie

Haben schon Babys ein Gefühl für Stochastik?

Bereits sechs Monate alte Kinder scheinen Wahrscheinlichkeiten einschätzen zu können

Schon wenige Monate alte Babys durchschauen ihre Umwelt erstaunlich gut. © iStock.com

Kleine Mathegenies: Schon Säuglinge verstehen offenbar simple Grundprinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sechs Monate nach der Geburt stutzen sie bereits, wenn eine mit farbigen Bällen gefüllte Lottomaschine gehäuft die seltenere und damit unwahrscheinlichere Farbe zieht. Dieses erstaunliche Gefühl für Wahrscheinlichkeiten hat bei den Babys jedoch noch Grenzen: Wird der Unterschied zwischen der wahrscheinlicheren und der unwahrscheinlicheren Variante zu klein, scheitern die Kleinkinder.

Säuglinge sind wie kleine Lernmaschinen. Ihr ganzes Wesen ist darauf ausgerichtet, neue Eindrücke einzuordnen und so die Welt und ihre Regeln verstehen zu lernen. Schon lange bevor sie selbst sprechen können, durchschauen sie ihre Umwelt überraschend gut. So erkennen die Babys beispielsweise, wenn jemand völlig falsche Silbenkombinationen äußert. Zudem besitzen sie bereits einen Sinn für Mengen und begreifen sogar grundlegende physikalische Zusammenhänge wie etwa den Unterschied zwischen Flüssigkeiten und Feststoffen.

Nun zeigt sich, dass die Kleinen auch erstaunlich früh ein Gefühl für Wahrscheinlichkeiten zu entwickeln scheinen. Diese Fähigkeit gehört zu den wichtigsten unseres Gehirns und ermöglicht es uns zum Beispiel, Risiken besser abzuschätzen und unser Handeln entsprechend auszurichten. Ab welchem Alter wir dazu in der Lage sind, eine grobe Vorstellung über die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Geschehnisse zu haben, war bislang jedoch unklar.

Unwahrscheinliche Beobachtungen

Um das herauszufinden, haben Neurowissenschaftler um Ezgi Kayhan vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig Tests mit Babys im Alter von sechs, zwölf und 18 Monaten durchgeführt. Dabei zeigten sie den insgesamt 75 kleinen Probanden animierte Filme, in denen eine mit blauen und gelben Bällen gefüllte Maschine zu sehen war – ähnlich einer Lottomaschine. Die Menge der blauen Bälle überwog darin deutlich.

Die Kinder sahen nun, wie die Maschine gleichzeitig Bälle in zwei Körbe spuckte. Der Clou: Die Maschine war so eingestellt, dass in dem einen Korb immer eine wahrscheinliche Stichprobe landete, in dem anderen jedoch eine extrem unwahrscheinliche. Das heißt: Obwohl es rein rechnerisch 625 Mal unwahrscheinlicher war, dass die Maschine einen gelben statt eines blauen Balls ausspuckte, landeten in einem der zwei Körbe fast ausschließlich gelbe Bälle. Dieser zweite Behälter spiegelte damit ein Ereignis wider, das nur mit einer extrem geringen Wahrscheinlichkeit auftritt.

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Die Babys schauten länger auf den Korb, der hauptsächlich mit gelben Bällen gefüllt war - offenbar aus Erstaunen über das unwahrscheinliche Ereignis. © MPI CB

Prinzip verstanden?

Wie würden die Babys darauf reagieren? „Wir haben festgestellt, dass die Babys, egal welcher Altersklasse, länger auf die unwahrscheinlichere Variante schauten als auf die andere“, berichtet Kayhan. Das gilt als ein deutliches Zeichen dafür, dass sie überrascht waren. Um sicherzustellen, dass die Kleinen sich nicht nur mehr zu der gelben Farbe hingezogen fühlten, drehten die Wissenschaftler in einigen Versuchen die Häufigkeiten beider Farben um oder verwendeten grüne und rote Bälle: Jedes Mal schauten die Babys unwillkürlich länger zu dem unwahrscheinlich gefüllten Korb.

Für das Team ist damit klar: Bereits sechs Monate alten Kindern gelingt es, aus einer Menge aus farbigen Bällen herauszufiltern, welche Farbe die häufigere und damit diejenige ist, die mit größerer Wahrscheinlichkeit gezogen wird. Kurzum: Sie scheinen ein Gefühl für Stochastik zu haben. Vier Monate alte Babys können diese Aufgabe dagegen noch nicht lösen, wie eine frühere Studie gezeigt hat.

Blicke ändern sich

Doch wie gut ist diese Fähigkeit bei den sechs Monate alten Babys schon entwickelt – und wo liegen möglicherweise die Grenzen? Auf der Suche nach einer Antwort untersuchten Kayhan und ihre Kollegen, ob es eine Rolle spielt, wie klar der Unterschied zwischen der wahrscheinlichen und der unwahrscheinlichen Variante auf den ersten Blick zu erkennen ist.

Zu diesem Zweck veränderten sie das Verhältnis aus blauen und gelben Kugeln und somit die Wahrscheinlichkeit, dass eine der beiden Farben gezogen wird. Im Versuch war es nun nur noch neunmal wahrscheinlicher, dass die Maschine eine blaue statt einer gelben Kugel ausspuckte. Tatsächlich zeigte sich ein Unterschied: Die kleinen Studienteilnehmer schauten in diesem Fall plötzlich länger auf die wahrscheinlichere Variante, den Korb mit den vorrangig blauen Bällen.

Zu komplex?

„Diese Beobachtung war für uns sehr überraschend“, sagt Kayhan. „Eine Erklärung dafür könnte sein, dass mit steigendem Schwierigkeitsgrad die Informationen für die Kleinen zu komplex wurden. Aus früheren Studien wissen wir, dass sich Babys dann auf ihnen bekannte Objekte oder Zusammenhänge konzentrieren, wenn sie nicht genügend Zeit haben, neue und komplexe Informationen zu verarbeiten.“

Ob Babys mit Wahrscheinlichkeiten umgehen können, hängt demnach nicht nur von ihrem Alter ab – sondern offenbar auch von dem Verhältnis zwischen einem wahrscheinlichen und einem unwahrscheinlichen Ereignis, schlussfolgert das Team. (Child Development, 2017; doi: 10.1111/cdev.12970)

(Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, 06.11.2017 – DAL)

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