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Geowissen

Wie Großbritannien zur Insel wurde

"Brexit 1.0" verlief dramatischer als bisher angenommen

Bevor die Landbrücke nach England endgültig zerstört wurde, tosten gewaltige Wasserfälle eine hohe Kalksteinbarriere hinab. © Imperial College London/ Chase Stone

Doppelte Katastrophe: Die Abtrennung Großbritanniens vom europäischen Festland verlief viel dramatischer als gedacht. Erst erodierten gigantische Wasserfälle eines überschwappenden Schmelzwassersees die Landbrücke. Dann brach auch die letzte verbindende Kalksteinbarriere und gewaltige Sturzfluten kerbten tiefe Gräben in den Fels. Erst dieses Doppelereignis machte Großbritannien endgültig zur Insel, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature Communications“ berichten.

Nach landläufiger Ansicht geschah die Abtrennung Großbritanniens vom europäischen Festlandallmählich: Die nach den Eiszeiten ansteigenden Meeresspiegel überfluteten einfach das flache, dazwischen liegende Land. Der Haken daran: Noch vor 450.000 Jahren verband ein hoher Kalksteinrücken die Gegend von Dover mit dem heutigen Calais., der selbst bei höchsten Pegeln nicht überflutet wurde.

Das Rätsel der verschwundenen Kalkstein-Brücke

„Durch diese strukturelle Landbrücke blieb Großbritannien selbst in Zeiten hoher Meeresspiegel mit Europa verbunden“, erklären Sanjeev Gupta vom Imperial College London und seine Kollegen. „Der Durchbruch dieser Barriere war daher eine notwendige Bedingung, um die Britischen Inseln zu erschaffen.“

Doch wann und wie diese letzte Landbrücke zerstört wurde, war bisher unklar. Um das zu ändern, haben Gupta und seine Kollegen von 2002 bis 2012 den Meeresgrund im Ärmelkanal zwischen Calais und Dover mehrfach mit seismischen Messungen und speziellem Sonar kartiert – keine leichte Aufgabe in einem der meistbefahrenen Schifffahrtswege der Welt.

Katastrophe statt allmähliche Erosion

Das Ergebnis: Die Auswertung der geologischen Daten förderte mehrere Indizien für katastrophale Veränderungen in der Gegend rund um die urzeitliche Kalksteinbarriere zutage. Sie deuten darauf hin, dass die Landbrücke zwischen Dover und Calais nicht allmählich erodierte wie bisher gedacht. Stattdessen führten zwei nacheinander stattfindende Katastrophen zu ihrer Zerstörung.

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Reste der Kalksteinbarriere und tiefe Erosionsgruben darunter zeugen von starken urzeitlichen Wasserfällen. © Imperial College London/ Sanjeev Gupta und Jenny Collier

Das erste Indiz dafür ist eine ganze Reihe großer, sedimentgefüllter Gruben im Meeresgrund, die sich in einer fast geraden Linie von Küste zu Küste ziehen. Diese Gruben sind teilweise mehrere Kilometer groß und bis zu 100 Meter tief eingegraben, wie Gupta und seine Kollegen berichten. Einige dieser Fosse Dangeard getauften Gruben hatte man schon beim Kanaltunnel-Bau in den 1960er Jahren entdeckt, konnte sie aber damals nicht deuten.

Der erste Akt: Riesen-Wasserfälle

Die neuen Daten legen nahe, dass es sich um sogenannte Fallkolke handelt – durch Erosion eingegrabenen Becken, wie sie typischerweise am Fuß von Wasserfällen entstehen. Wie die Forscher erklären, existierte vor rund 450.000 Jahren ein ausgedehnter Schmelzwassersee östlich der Kalksteinbarriere. Die Wasserfälle müssen entstanden sein, als Wasser aus diesem See über den Damm strömte und bis zu 100 Meter in die Tiefe stürzte.

„Warum der See damals überlief, wissen wir bisher nicht“, erklärt Koautorin Jenny Collier vom Imperial College London. „Vielleicht brach ein Teil des Eispanzers ab, stürzte in den See und erzeugte eine Flutwelle, die sich ihren Weg über die Barriere bahnte.“ Weil damals gleich mehrere Fallkolken entstanden, muss es mehrere Wasserfälle entlang der Kalksteinbarriere gegeben haben – und sie bestanden lange genug, um sich tief in das Untergrundgestein einzugraben.

Tief eingegrabene Kanäle am Grund des Ärmelkanals zeugen von urzeitlichen Sturzfluten © Imperial College London/ Sanjeev Gupta und Jenny Collier

Der zweite Akt: Mega-Sturzfluten

Doch die Wasserfälle waren nur der erste Akt. Wie die Bathymetrie-Daten aus dem Ärmelkanal ergaben, formte sich danach ein tief eingekerbtes Flusssystem westlich der Kalksteinbarriere zwischen Dover und Calais. Der rund 80 Kilometer lange und bis zu zehn Kilometer breite Lobourg Channel ist bis zu 25 Meter tief in den Felsuntergrund eingekerbt, wie die Forscher berichten.

Das urzeitliche Flussbett beginnt in zwei Felsformationen, die wie Amphitheater terrassenartig zu den eingegrabenen Kanälen hin abfallen. „Diese Formation ist in relativ beständige Sandsteinformationen erodiert“, berichten Gupta und seine Kollegen. „Das Ausmaß des Lobourg Channels und die charakteristischen Landschaftsformen sprechen dafür, dass Episoden heftiger Sturzfluten nötig waren, um dieses Flusssystem zu graben.“

Die Wissenschaftler vermuten, dass diese Megafluten ausgelöst wurden, als der Kalksteinriegel zwischen Dover und Calais endgültig durchbrochen wurde. Möglicherweise schwächte die rückschreitende Erosion durch die Wasserfälle im Laufe der Zeit die Barriere, so dass sie irgendwann nachgab. „Das verursachte einen Kollaps der Kalksteinbarriere und löste die Megaflut aus, für die wir in unseren Daten klare Indizien gefunden haben“, sagt Collier.

Bis heute prägende Trennung

Damit war die Landbrücke zwischen Großbritannien und dem Festland zerstört. Als dann die Eiszeit endete und die Meeresspiegel stiegen, wurde das nunmehr flache Land überspült und Großbritannien wurde endgültig zur Insel.

„Der Bruch dieser Landbrücke zwischen Dover und Calais war unzweifelhaft eines der wichtigsten Ereignisse in der britischen Geschichte – und eines, das die Identität unseres Landes bis heute prägt“, sagt Gupta. „Ohne diesen dramatischen Durchbruch wäre Großbritannien noch immer Teil Europas. Dies ist der Brexit 1.0 – der Brexit, für den damals niemand abgestimmt hat.“

Wann genau diese geologischen Ereignisse und in welchem Abstand stattfanden, ist bisher noch nicht eindeutig geklärt. Um das herauszufinden, wollen die Wissenschaftler als nächstes Bohrproben aus den urzeitlichen Fallkolken entnehmen und anhand der Sedimentschichten genauer bestimmen, wann die Vertiefungen entstanden. (Nature Communications, 2017; doi: 10.1038/ncomms15101)

(Imperial College London /Nature, 05.04.2017 – NPO)

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