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Psychologie

Was treibt Selbstmordattentäter an?

Geteiltes Leid fördert extreme Identifikation mit der Gruppe

Warum sind manche Menschen dazu bereit, ihr eigenes Leben für die Ziele einer Gruppe zu opfern? © Zabelin/ iStock.com

Schmerzvolle Verbindung: Forscher haben herausgefunden, warum Selbstmordattentäter scheinbar so bereitwillig ihr eigenes Leben opfern. Demnach führen gemeinsame Erfahrungen und vor allem negative Erlebnisse dazu, dass sie eine extreme Form der Gruppenidentität entwickeln: Sie fühlen sich so stark eins mit der Gruppe, dass sie für sie in den Tod gehen. Diese extreme Form der Kooperation könnte für unsere Vorfahren sogar überlebenswichtig gewesen sein.

Menschen sind für Evolutionsbiologen ein ganz besonderes Phänomen. Kein anderes Tier ist so hilfsbereit und kennt gegenseitige Unterstützung in solchem Ausmaß wie der Homo sapiens. In bestimmten Ausnahmesituationen nimmt dieser Trieb zur Kooperation mitunter extreme Auswüchse an. Ob die japanischen Kamikazepiloten im Zweiten Weltkrieg oder islamistische Selbstmordattentäter – manche Menschen sind bereit, für andere das ultimative Opfer zu bringen.

Dieses Verhalten gibt Forschern Rätsel auf: Wie kann es sein, dass sich ein Charakterzug, der Individuen zur tödlichen Selbstaufgabe treibt, im Laufe der Evolution durchsetzt? Besonders verwunderlich dabei: In der Regel setzen sich Soldaten wie Terroristen für eine Gruppe von Menschen ein, mit denen sie noch nicht einmal verwandt sind.

Tödliche Selbstaufgabe: Bei einem terroristischen Anschlag ist nicht selten auch der Täter unter den Opfern. © Sengulmurat/ iStock.com

Eins mit einer sozialen Gruppe

Wissenschaftler um Sergey Gavrilets von der University of Utah in Salt Lake City haben sich nun auf die Suche nach Erklärungen gemacht. Ihr Ausgangspunkt: Bisherige Forschungsansätze deuten darauf hin, dass der Wille für andere zu kämpfen und zu sterben, durch etwas motiviert wird, das Experten „identity fusion“ nennen – die Verschmelzung von Identitäten. Dabei nimmt sich das Individuum weniger als eigenständige Person wahr, sondern vielmehr als eins mit einer sozialen Gruppe.

Was aber fördert dieses extreme Verbundenheitsgefühl und welche Rolle könnte die „identity fusion“ in der Entwicklunsggeschichte des Menschen gespielt haben? Um das zu überprüfen, nutzten die Forscher Computermodelle. Diese berechneten anhand unterschiedlicher Szenarien, unter welchen Umständen der Hang zu extremer Selbstaufgabe bei unseren Vorfahren aufkommen und sich langfristig durchsetzen konnte.

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Geteiltes Leid als bestimmender Faktor

Das Ergebnis: Die Bereitschaft, sich auf eigene Kosten für andere einzusetzen, könnte bei unseren Vorfahren eine wichtige Überlebensstrategie gewesen sein. Nur so konnten Bevölkerungsgruppen bedrohliche Situationen meistern und in Konflikten mit anderen Gruppen erfolgreich bestehen. Gemeinsame Erfahrungen könnten dabei ein bedeutender Faktor gewesen sein, der diese Kooperation antrieb.

Vor allem geteilte negative Erlebnisse und Schmerzen scheinen den Modellberechnungen zufolge die Wahrscheinlichkeit für prosoziales Verhalten zu fördern. Die Chancen, durch Kooperation auch künftig zu überleben und eine gemeinsame evolutionäre Zukunft zu haben, waren dabei wahrscheinlich von größerer Bedeutung als die Abstammungsverhältnisse und die Weitergabe von Genen des Einzelnen.

„Näher als Brüder“

Die Modelle spiegeln Gavrilets und seinen Kollegen zufolge die Bedingungen wider, unter denen unsere Vorfahren vor zehntausenden von Jahren lebten – eine Phase, in der das Überleben ein Kampf war. Heute hat der moderne Mensch es nicht mehr so schwer. Der ultimative Einsatz, um das Überleben einer sozialen Gruppe zu sichern, scheint obsolet. In extremen Situationen aber, so die Theorie der Forscher, könnte dieses evolutionäre Erbe auch in modernen Gruppen Ausdruck finden.

Ob das wirklich stimmt, testete das Team anhand von empirischen Daten aus unterschiedlichen Studienpopulationen – darunter Vietnam-Veteranen, Jiu Jitsu-Kämpfer, Mitglieder von Studentenverbindungen, die erniedrigende Einführungsrituale über sich ergehen lassen mussten und Zwillingspaare. Tatsächlich bestätigten sich die Hypothesen: Je mehr Menschen durch schmerzhafte Erfahrungen miteinander verbunden sind, desto eher sind sie bereit, sich füreinander einzusetzen – im Zweifel bis hin zur Selbstaufopferung. Das Verbundenheitsgefühl, das dabei entsteht, kann sogar stärker sein als Familienbande.

„Die Forschung hat schon viele Wege identifiziert, wie Kooperation im Laufe der Evolution entstehen kann. Mit unserer Studie ergänzen wir nun einen neuen, bisher unterschätzten, aber sehr mächtigen Mechanismus: extreme Kooperation durch geteilte Erfahrungen“, sagt Gavrilets. Im Englischen bezeichne der Begriff „Band of Brothers“ militärische Einheiten, die in gewalttätigen Konflikten eingesetzt werden: „Tatsächlich können gemeinsame negative Erlebnisse Individuen einander aber sogar näher bringen als Brüder“, schließt er. (Scientific Reports, 2017)

(National Institute for Mathematical and Biological Synthesis, 15.03.2017 – DAL)

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