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Medizin

Rückenschmerzen: Zu viele Aufnahmen, falscher Rat

Ärzte in Deutschland folgen bei Rückenschmerzen oft nicht den medizinischen Leitlinien

Rückenschmerzen sind inzwischen ein echtes Volksleiden. © Eraxion/iStock.com

Röntgen statt reden: In Deutschland wird bei Rückenschmerzen zu schnell und zu oft geröntgt oder eine Tomografie gemacht – weil Patienten dies erwarten, aber auch, weil Ärzte nicht den medizinischen Leitlinien folgen. Das hat die Studie Faktencheck Rücken der Bertelsmann Stiftung ergeben. Demnach wären viele Aufnahmen überflüssig und viele Arztbesuche auch. Hinzu kommt: Teilweise werden Rückenpatienten von ihren Ärzten sogar falsch beraten.

Rückenschmerzen sind ein echtes Volksleiden: Weltweit verursachen allein Schmerzen im unteren Rücken mehr Einschränkungen und Behinderungen als jede andere Krankheit, wie eine Studie im Jahr 2014 ergab. In Deutschland geht jeder fünfte gesetzlich Versicherte mindestens einmal im Jahr wegen Rückenschmerzen zum Arzt – 27 Prozent davon suchen sogar vier Mal oder öfter einen Arzt auf.

Viele Arztbesuche wären überflüssig

Doch viele dieser jährlich mehr als 38 Millionen Arztbesuche wären vermeidbar – und erst recht viele der in diesem Kontext gemachten rund sechs Millionen Bildaufnahmen. Zu diesem Schluss kommt die Studie Faktencheck Rücken der Bertelsmann Stiftung. Datengrundlage dafür waren anonymisierte, repräsentative Daten von mehr als sieben Millionen Versicherten aus rund 70 gesetzlichen Krankenversicherungen.

Nach heutigem Wissen sind 85 Prozent der akuten Rückenschmerzen medizinisch unkompliziert und gehen häufig sogar von allein wieder weg. Gibt es keine Hinweise auf gefährliche Komplikationen wie Wirbelbrüche oder Entzündungen, kann es daher schon ausreichen, sich gemäßigt zu bewegen, den Rücken warm zu halten und die Schmerzen durch gängige Schmerzmittel zu lindern. Auch eine gezielte Krankengymnastik kann helfen, mögliche Verspannungen zu beheben. Nach einigen Tagen bis Wochen geben sich dann die Beschwerden meist wieder.

Falsche Erwartungen der Patienten

Viele Betroffene geben sich aber mit einer solchen konservativen Therapie nicht zufrieden: Wie der Faktencheck ergab, erwarten rund 60 Prozent der Bevölkerung schnellstens eine bildgebende Untersuchung. Und mehr als zwei von drei Personen erwarten, dass der Arzt durch Röntgenbilder, Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomographie (MRT) die genaue Ursache des Schmerzes findet.

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Doch das ist ein Trugschluss: Ärzte können normalerweise bei höchstens 15 Prozent der Betroffenen eine spezifische Ursache für den Schmerz feststellen. Die meisten Bilder verbessern oft also weder Diagnose noch Behandlung von Rückenschmerzen.

Dr. Eckart von Hirschhausen erklärt, warum bei Rückenschmerzen viel nicht immer viel hilft.© Bertelsmann Stiftung

Falsche Reaktion der Ärzte

Aber auch die Mediziner tragen zu den Missverständnissen rund um die Rückenschmerzen bei: Sie rücken die falschen Erwartungen der Patienten nicht zurecht – und machen oft von sich aus vorschnelle und unnötige Bildaufnahmen. Wie der Faktenscheck ergab, veranlassten Ärzte im Jahr 2015 bei jedem zweiten Betroffenen eine Aufnahme, ohne vorher einen konservativen Therapieversuch unternommen zu haben.

Das jedoch widerspricht den medizinischen Leitlinien. Diese sehen vor, dass Patienten zunächst konservativ behandelt werden, beispielsweise durch Physiotherapie und Schmerzmittel. Erst wenn nach mehreren Wochen der Schmerz nicht zurückgegangen ist, sollten Aufnahmen gemacht werden. „Ärzte müssen falsche Kenntnisse und Erwartungen von Patienten korrigieren. Nur so werden sie ihrem eigenen Anspruch als vertrauenswürdige Experten gerecht“, sagt Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.

Reden statt röntgen

Hinzu kommt, dass viele Ärzte ihren Patienten sogar falsche Ratschläge geben: So wird 43 Prozent der Betroffenen noch immer Ruhe und Schonung empfohlen – nach heutigen Erkenntnisse ist dies genau das Falsche. Zudem verstärken Ärzte oft das Krankheitsgefühl der Betroffenen, anstatt sie zu beruhigen. 47 Prozent der Betroffenen wird vermittelt, dass der Rücken „kaputt“ oder „verschlissen“ sei.

„Oft werden die Befunde der Bildgebung überbewertet. Dies führt zu unnötigen weiteren Untersuchungen und Behandlungen, zur Verunsicherung des Patienten und kann sogar zur Chronifizierung der Beschwerden beitragen“, sagt Jean-Francois Chenot von der Universität Greifswald und medizinischer Experte für den Faktencheck.

Internationale Beispiele zeigen, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, unnötige und im Zweifelsfall gesundheitsschädliche Aufnahmen zu reduzieren: In Teilen Kanadas erhalten Ärzte seit 2012 keine Vergütung mehr, wenn sich herausstellt, dass Bildaufnahmen veranlasst wurden, obwohl kein gefährlicher Verlauf der Rückenschmerzen erkennbar war. In den Niederlanden setzt man auf striktere Zugangsbeschränkungen zu den Geräten für bildgebende Verfahren.

„Die gründliche körperliche Untersuchung und das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patient müssen wieder mehr Gewicht erhalten“, sagt Mohn.

(Bertelsmann Stiftung, 23.11.2016 – NPO)

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