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Psychologie

Musik: Vorliebe für Harmonie ist nicht angeboren

Naturvolk der Tsimane belegt Prägung durch Kultur

Dass wir dissonante Klänge als unangenehm empfinden, ist offenbar nicht angeboren. © Dolgachov/ iStock.com

Kultur statt Natur: Die meisten von uns hören lieber harmonisch klingende Tonfolgen als Dissonanzen – deshalb galt diese Vorliebe lange als angeboren. Doch ein Experiment beim Amazonas-Volk der Tsimane widerlegt dies nun. Denn sie empfinden konsonante und dissonante Tonfolgen als gleich angenehm, wie Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten. Das spricht gegen eine instinktive Vorliebe und für eine kulturelle Prägung unserer Musikpräferenzen.

Für unsere Ohren klingen bestimmte Tonintervalle dissonant, andere dagegen besonders harmonisch, beispielsweise eine Quinte. Solche Akkorde tauchen daher in unserer westlichen Musik besonders häufig auf. Schon die antiken Griechen spekulierten deshalb, ob hinter diesen angenehmen Tonkombinationen eine Art Naturgesetz steht. Auch die meisten Forscher sind bisher davon ausgegangen, dass die Vorliebe für harmonische Klänge angeboren sein muss.

Amazonas-Volk als Prüfstein

Echte Belege für oder gegen eine solche angeborene Präferenz in der Musik gab es bisher jedoch kaum. Der Grund dafür: „Es ist ziemlich schwer, heute Menschen zu finden, die nicht schon mit westlicher Musik in Kontakt gekommen sind, weil diese sich um die ganze Welt verbreitet hat“, erklärt Erstautor Josh McDermott vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Dadurch aber ist es fast unmöglich, kulturelle Einflüsse von biologischen zu trennen.

Nun jedoch haben die Forscher ein Volk aufgespürt, das sich perfekt eignet, um die Theorie zu testen: die Tsimane. Dieses im Amazonasgebiet lebende Naturvolk ist bisher kaum mit der westlichen Kultur in Kontakt gekommen und kennt weder Strom noch Unterhaltungselektronik. Hinzu kommt: In ihrer Musik gibt es keine Harmonien, Polyphonie oder Gruppengesänge, dadurch sind die Tsimane kulturell nicht auf eine Vorliebe für Harmonien geprägt.

Musiktests bei den Tsimane im AMazonas-Regenwald. © Josh McDermott

Lauschen für die Wissenschaft

Für ihre Studie spielten McDermott und seine Kollegen mehr als 100 Tsimane verschiedenen Tonintervalle vor – mal gemeinsam erklingend, mal nacheinander, mal gesungen, mal von einem Instrument erzeugt. Vom jeweiligen Zuhörer wollten die Wissenschaftler jeweils wissen, wie angenehm oder unangenehm für ihn das Intervall klingt.

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Das gleiche Experiment führten die Forscher anschließend mit Bewohnern einer bolivianischen Kleinstadt und der Hauptstadt La Paz durch, sowie mit US-Bürgern, die entweder selbst ein Instrument spielten oder nicht.

Keine Präferenz für Harmonisches

Das Ergebnis: Bei den Amerikanern und Bolivianern war die Präferenz für konsonante Tonfolgen umso höher, je stärker sie westlich-musikalisch vorgeprägt waren. Vor allem die US-Bürger bewerteten harmonische Klänge nahezu durchgehend als angenehmer, wie die Forscher berichten.

Anders dagegen bei den Tsimane: Für sie klangen konsonante und dissonante Klänge gleich angenehm oder unangenehm. Sie sahen in diesen Intervallen ästhetisch gesehen keinen Unterschied – egal ob die Töne zusammen erklangen oder nacheinander. Am Gehör liegt es dabei nicht, wie zusätzliche Tests ergaben. Denn die Tsimane nehmen die Unterschiede zwischen Konsonanz und Dissonanz durchaus wahr, bevorzugen aber keines von beiden.

Nicht angeboren, sondern erlernt

Nach Ansicht der Forscher sprechen diese Ergebnisse gegen eine angeborene Vorliebe für konsonante Klänge. Läge diese Präferenz in unsren biologischen Wurzeln, dann hätte man sie auch bei den Tsimane finden müssen. Doch das war nicht der Fall. Auch die Hypothese, nach der unsere Vorfahren diese Vorliebe von den harmonischen Klängen der Natur abgeletiet haben, wird durch die Tsimane widerlegt.

„Stattdessen ist diese weitverbreitete Vorliebe offenbar durch den Kontakt mit der westlichen Musikkultur geprägt“, konstatiert McDermott. „Die Kultur spielt demnach für unsere ästhetische Reaktion auf Musik eine dominante Rolle.“ (Nature, 2016; doi: 10.1038/nature18635)

(Massachusetts Institute of Technology, 14.07.2016 – NPO)

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