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Medizin

„Umweltgifte verdummen unsere Kinder“

Wissenschaftler warnen erneut vor hirnschädigender Wirkung von Alltags-Chemikalien

Im Mutterleib sind Ungeborene bereits unzähligen Umweltgiften ausgesetzt - mit Folgen für ihre Hirnentwicklung. © Janulla/iStock.com

Forscher schlagen Alarm: Durch Alltags-Chemikalien wie Weichmacher, Pestizide oder organische Schadstoffe droht eine ganze Generation von Kindern, bleibende neurologische Schäden davonzutragen. Der Grund: Diese Umweltgifte stören die Hirnentwicklung ungeborener Kinder – und inzwischen ist ein wahrer Cocktail dieser Chemikalien bei schwangeren Frauen nachweisbar. Es müsse dringend etwas getan werden, um Kinder zu schützen, fordern die Wissenschaftler.

Schon vor zwei Jahren schlugen Neurowissenschaftler das erste Mal Alarm. Sie hatten für elf verbreitete Chemikalien, darunter Blei, Quecksilber, Blei, Quecksilber, polychorierte Biphenyle, einige Lösungsmittel sowie Pestizide eine hirnschädigende Wirkung auf Föten nachgewiesen. Ihrer Ansicht nach könnte daher eine schleichende vorgeburtliche Vergiftung mit Chemikalien daran schuld sein, dass immer mehr Kinder unter Verhaltens- und Entwicklungsstörungen leiden.

„Überwältigende Beweise“

Jetzt legen Dutzende weitere Forscher mit einer neue Studie nach. Auch sie bestätigen die pränatal hirnschädigende Wirkung von Chemikalien, die in unserem Alltag bisher weit verbreitet sind. Als potenziell gefährlich listen die Forscher ebenfalls die Schwermetalle Blei und Quecksilber, aber auch organosphate Pestizide, Weichmacher, Flammschutzmittel mit polybromierten Biphenylen und Luftschadstoffe wie polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK).

„Es existieren überwältigende wissenschaftliche Belege dafür, dass die frühe Belastung mit solchen neurotoxischen Chemikalien zu einer ganzen Reihe von Entwicklungsstörungen bei Kindern beiträgt“, sagt Frederica Perera von der Columbia University in New York. Im Mutterleib finde der wichtigste Teil der Hirnentwicklung statt. „Wenn man diesen Prozess stört, kann das dauerhafte Folgen haben.“

ADHS, IQ-Defizite und Co

So zeigen Studien, dass Weichmacher Verhaltensstörungen und geistige Defizite bei Kindern fördern können. „Wirkungen umfassen die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS), sowie Aggression, Depressionen und andere Störungen der emotionalen Regulation“, erklären die Forscher. „Zudem wird die pränatale Belastung mit Phtalaten mit Defiziten im IQ von Kindern, dem Arbeitsgedächtnis und dem Denken in Verbindung gebracht.“

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Die meisten schwangeren Frauen tragen einen wahren Chemikaliencocktail im Blut. © Julie McMahon

Bisher jedoch sind nur einige Weichmacher in Kinderspielzeug oder Babyfläschchen verboten. „Phtalate sind überall, sie finden sich den verschiedensten Produkten“, sagt Susan Schanz von der University of Illinois. „Wir sind ihnen daher täglich ausgesetzt.“ Erst vor kurzem ergab eine Studie, dass wir beispielsweise über Fastfood besonders viele Weichmacher aufnehmen.

Störung der Hirnentwicklung

Eine weitere Chemikaliengruppe sind polybromierte und polychlorierte Biphenyle. Erstere sind zwar seit dem Jahr 2000 international verboten, halten sich aber bis heute noch in teilweise hohen Konzentrationen in der Umwelt. Bis heute beeinflussen sie daher unter anderem das Verhalten von Kindern – auch in Deutschland.

Die ursprünglich als Ersatz gedachten polybromierten Biphenyle sind aber kaum besser, wie die Forscher berichten: Sie stören die Produktion von Schilddrüsenhormonen, die beim Ungeborenen entscheidend an der Hirnentwicklung beteiligt sind – mit entsprechenden Folgen: „Studien zeigen, dass einige Biphenyle bei Kindern wichtige Hirnleistungen für das Denken und den schulischen Erfolg stören“, berichten die Wissenschaftler. Pestizide mit Organophosphaten als Wirkstoff hemmen dagegen die Funktion des Neuroenzyms Acetylcholin-Esterase. Eine pränatale Belastung kann Studien zufolge Entwicklungs- und Bewegungsstörungen bei Kindern verursachen, den IQ senken und ebenfalls ADHS fördern.

Forscher untersuchen, welche Folgen die Belastung von Ungeborenen mit Chemikalien hat.© University of Illinois / TENDR

Es muss etwas getan werden“

Das Problem: Diese Chemikalien sind so weit verbreitet, dass man ihnen im Alltag kaum entgehen kann. Die Forscher fanden in ihrer Studie bei 90 Prozent der untersuchten Schwangeren in den USA einen wahren Chemie-Cocktail im Blut. Bis zu 62 verschiedenen Chemikalien auf einmal ließen sich teilweise nachweisen.

„Diese Chemikalien sind allgegenwärtig – nicht nur in Luft und Wasser, sondern auch in alltäglichen Konsumprodukten, die wir in unserem Haushalt und an unserem Körper nutzen“, sagt Schantz. „Es ist daher dringend nötig, die Belastung mit diesen Umweltgiften zu reduzieren, um die heutigen und künftigen Kinder zu schützen.“

Die Wissenschaftler fordern, für die Zulassung solcher Chemikalien strengere Regelungen zu treffen und schon bei Verdacht auf eine pränatal hirnschädigende Wirkung zu handeln und ein Verbot auszusprechen. „Wir können nicht jedes Mal zehn oder 15 Jahre warten, bis wir ganz sicher sind – und in der Zwischenzeit unzählige Kinder der Belastung aussetzen“, so Schantz. (Environmental Health Perspectives, 2016)

(University of Illinois / Columbia University, 04.07.2016 – NPO)

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