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Neurobiologie

Erste „Wortkarte“ unseres Gehirns

Forscher erstellen ersten Atlas des semantischen Netzwerks in unserem Gehirn

Überzogen mit Wörtern: Der neue Hirnatlas zeigt, welche Areale auf welche Wörter reagieren. © Nature Video

Ein neuer Hirnatlas zeigt erstmals, wo unser Gehirn welche Wörter verarbeitet. Für mehr als 10.000 Wortbedeutungen kann man direkt erkennen, welche Areale aktiv werden. Demnach aktivieren Wörter mit eher sozialer Bedeutung beispielsweise andere Hirnareale als Farbwörter, Ortsangaben oder Zahlen. Das gesamte semantische Netzwerk überzieht jedoch das gesamte Gehirn, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.

Überzogen mit Wörtern: Der neue Hirnatlas zeigt, welche Areale auf welche Wörter reagieren.© Nature Video

Dank moderner bildgebender Verfahren weiß man heute, dass Sprache in unserem Gehirn mehr Areale aktiviert als nur die beiden bekannten Sprachzentren der linken Hirnhälfte. Stattdessen ist ein ganzes Netzwerk daran beteiligt, die Bedeutung der Wörter zu entschlüsseln. Doch wie die Arbeit innerhalb dieses Netzwerks verteilt ist und wo welche Bedeutungen verarbeitet werden, blieb weitgehend unbekannt.

Geschichten erzählen im Hirnscanner

Alexander Huth und seine Kollegen von der University of California in Berkeley haben nun erstmals dieses semantische Netzwerk in seiner Gesamtheit kartiert. Für ihre Studie spielten sie sieben Probanden zwei Stunden lang vorgelesene Geschichten vor, währen diese in einem hochauflösenden funktionellen Magnetresonanz-Tomografen (fMRT) lagen. Dieser zeichnete auf, welche Gehirnregion aktiv wurde, wenn ein Wort mit einer bestimmten Bedeutung ertönte.

Für die Auswertung dieser Aufzeichnungen ordneten die Forscher gut 10.000 Wörter zwölf semantischen Bedeutungsgruppen zu. Mit Hilfe computergestützter Verfahren kartierten sie dann, wo die Wörter eine Reaktion im Gehirn der Probanden hervorriefen – und wo sich bestimmte semantische Gruppen ballten.

Verteilt über das ganze Gehirn

Das Ergebnis ist ein dreidimensionaler Atlas unseres Gehirns, der über und über mit Wörtern gepflastert ist. Schon auf den ersten Blick wird damit deutlich, dass das semantische Netzwerk unser gesamtes Denkorgan überzieht. Insgesamt sind mehr als 130 verschiedene Areale beteiligt, wie die Forscher berichten.

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Diese verteilen sich nahezu gleichmäßig über das gesamte Gehirn – von einer Dominanz der traditionellen Sprachzentren der linken Hirnhälfte keine Spur. „Das ist ein erstaunlicher Aspekt unseres Gehirnatlas“, konstatieren Huth und seine Kollegen. „Diese Symmetrie scheint früheren Studien bei Menschen mit Hirnverletzungen zu widersprechen.“

Orte, Zeiten, Beziehungen

Der Atlas zeigt, dass sich Wörter aus der gleichen Bedeutungsgruppe in bestimmten Arealen konzentrieren. Wörter aus dem sozialen Kontext aktivieren unter anderem Areale im seitlichen Scheitellappen und im Schläfenlappen , bei eng mit dem Sehen verknüpften Wortbedeutungen reagieren dagegen vornehmlich – aber nicht nur – Neuronen in der Nähe der Sehrinde. Außerdem gibt es noch Bereiche, die vor allem bei Wörtern mit Ortsbezug anspringen, andere reagieren auf Zeitwörter oder Zahlennamen.

Interessant auch: Wörter, die je nach Kontext eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben können, aktiveren je nach semantischem Zusammenhang auch jeweils andere Areale. So kann das englische Wort „Top“ beispielsweise räumlich gemeint sein, aber auch eine Rangposition oder eine Wertung bedeuten. Im semantischen Atlas taucht dieses Wort daher mehrfach an unterschiedlicher Stelle auf.

Wörter mit ähnlicher Bedeutung aktivieren oft eng benachbarte Neuronen - es bilden sich Bedeutungs-"Inseln". © Nature

Viele Gemeinsamkeiten

Wo welche Wörter verarbeitet werden, war dabei trotz kleinerer individueller Unterschiede bei allen Probanden sehr ähnlich. Worauf dies beruht, ist allerdings noch nicht klar. „Es könnte sein, dass die Anatomie des Gehirns die Organisation dieses Netzwerks beeinflusst“, erklären Huth und seine Kollegen. „Möglich wäre aber auch, dass dies auf sehr ähnlichen Lebenserfahrungen unserer Teilnehmer beruht, die alle in westlichen Industrieländern aufgewachsen sind.“

Klar scheint aber in jedem Fall: Der erste semantische Atlas des Gehirns liefert wertvolle neue Einblicke in die Arbeitsweise unseres Gehirns. „Die Fähigkeit, semantische Repräsentationen mit diesem Detailreichtum zu kartieren, ist eine fantastische Errungenschaft“, kommentiert Kenneth Whang von der US National Science Foundation. Sie hilft nicht nur Sprachforschern und Neurolinguisten weiter, sondern könnte auch in der Medizin nützlich sein.

Zudem demonstriert die Studie, dass dank moderner datengestützter Verfahren schon ein verhältnismäßig simples Experiment ausreicht, um aussagekräftige Informationen zu erhalten: Die Probanden lauschten einfach nur Geschichten, während sie im Scanner lagen. „Mit dieser Methode könnten daher künftig auch andere Aspekte der Sprache, wie Laute oder Syntax, kartiert werden“, so die Forscher. (Nature, 2016; doi: 10.1038/nature17637)

(Nature, 28.04.2016 – NPO)

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