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Medizin

ADHS: Risiken von Ritalin weiter unklar

Größte Metastudie zu Methylphenidat enthüllt vor allem Lücken und fehlendes Wissen

Wie Methylphenidat langfristig auf das Gehirn von Kindern mit ADHS wirkt, weiß niemand © Kirillica/ iStock.com

Schlechte Daten und viele Nebenwirkungen: Wie gut der Ritalin-Wirkstoff Methylphenidat wirklich gegen ADHS hilft, bleibt weiter unklar. Denn die bisher umfangreichste Metastudie bestätigt vor allem die Vielzahl der Nebenwirkungen. Wegen extrem schlechter Qualität der bisherigen Studien sei aber weder das Ausmaß der positiven Effekte noch das Risiko für schwerwiegende Folgen einzuschätzen, so die Forscher der Cochrane Collaboration. Sie raten daher Ärzten zu besonderer Vorsicht bei der Verschreibung.

Die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung ADHS ist inzwischen die häufigste psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen – rund fünf Prozent von ihnen leiden daran. Um die Symptome dieser Störung zu lindern, bekommen viele ADHS-Betroffene den Wirkstoff Methylphenidat verschrieben, bekannt unter dem Markennamen Ritalin. Doch dieses mit Amphetaminen verwandte Mittel greift tief in den Hirnstoffwechsel ein – und hat daher auch akute Nebenwirkungen.

Welche Folgen hat Ritalin?

Welche Folgen die Einnahme von Ritalin und Co gerade auch längerfristig hat, ist bisher weitgehend unklar. Einige Untersuchungen deuten auf erhöhte Schlafprobleme und Appetitlosigkeit durch Methylphenidat hin. Bei Ratten löst eine Einnahme dieses Wirkstoffs im Jugendalter sogar für bleibende Defizite in der Lernfähigkeit und Plastizität des Gehirns, wie Forscher kürzlich herausfanden.

Um Klärung zu schaffen, hat nun die Cochrane Collaboration die bisher umfangreichste Metaanalyse zu Methylphenidat bei ADHS durchgeführt. Die Forscher um Ole Jakob Storebø von der Universität von Süddänemark werteten dafür 185 randomisierte Studien aus, an denen zusammen mehr als 12.000 Kinder und Jugendliche teilgenommen hatten. Neben den Ergebnissen zu den Nebenwirkungen und Folgen prüften die Wissenschaftler dabei auch die Qualität der Studien.

Ritalin verändert die Aufnahme eines Hirnbotenstoffs © scinexx

Wenig harte Belege für die Wirkung

Das Ergebnis: Zumindest scheint das Methylphenidat gegen die Symptome der ADHS zu wirken – wenn auch nicht überzeugend stark. Die Mehrheit der Studien ergab zwar, dass sich dadurch das Verhalten und die Lebensqualität der Kinder verbesserten. Im Durchschnitt führte die Therapie jedoch nur zu einer Besserung um 9,6 Punkte auf der 72-stufigen ADHS-Skala, wie die Forscher berichten. Eine Veränderung von 6,6 Punkten gilt als das Minimum, ab dem überhaupt eine Wirkung zugesprochen wird.

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Hinzu kommt: „Die niedrige Qualität der zugrundeliegenden Belege bedeutet, dass wir nicht sicher sein können, wie groß dieser Effekt tatsächlich ist“, betonen die Cochrane-Forscher. „Unsere Erwartungen an diese Therapie sind wahrscheinlich größer als sie sein sollten“, sagt auch Koautorin Camilla Groth von der dänischen Herlev Universitätsklinik. „Einigen Kindern könnte diese Behandlung zwar helfen, wir wissen aber nicht, bei welchen das der Fall sein wird.“ In vielen der untersuchten Studien

Nebenwirkungen wahrscheinlich unterschätzt

Ähnlich sah es bei den Nebenwirkungen aus: Die Analyse bestätigte, dass Kinder, die Ritalin bekommen, 60 Prozent häufiger unter Schlaflosigkeit und 266 Prozent häufiger unter Appetitstörungen leiden. Auch Kopfschmerzen, Zwangshandlungen, Ticks und obsessives Grübeln waren bei Gabe von Methylphenidat stärker vertreten, wie die Forscher berichten. Schwere Nebenwirkungen wie Psychosen, Infekte oder Ohnmachten schienen dagegen nicht häufiger vorzukommen.

Allerdings: Nur neun von 185 Studien gaben überhaupt an, ob es schwere Nebenwirkungen gegeben hatte. „Wir können daher nicht ausschließen, dass die negativen Folgen schlimmer sind als hier berichtet“, betonen Storebø und seine Kollegen. So deute eine bereits begonnene zweite systematische Metaanalyse darauf hin, dass durchaus schwere Nebenwirkungen bei Ritalingabe auftreten können. In einem Fall stieg sogar das Risiko für plötzliche Todesfälle bei Jugendlichen, wie die Forscher berichten.

Langzeitfolgen weiter unklar

Hinzu kommt: Bei den jetzt ausgewerteten Studien erhielten die Kinder und Jugendlichen maximal sechs Monate lang Methylphenidat, häufig deutlich kürzer. „Insgesamt fehlen Belege für die Langzeit-Effekte von Methylphenidat auf Kinder und Jugendliche mit ADHS“, so die Forscher. „Es ist gut möglich, dass die positive Wirkung bei längerer Einnahme zurückgeht und das Risiko für schädliche Folgen steigt.“

Nach Ansicht der Forscher werden dringend besser entworfene und längere Studien benötigt, wenn man die tatsächlichen Wirkungen der Ritalin-Therapie bei ADHS einschätzen will. Denn bisher sei es bei den meisten Methylphenidat-Studien möglich, trotz Verblindung zu erkennen, welches Kind zur Therapie oder zur Kontrollgruppe gehört – allein schon anhand der enorm häufigen Nebenwirkungen.

„Verschreibung gut abwägen“

Basierend auf diesen Erkenntnissen empfehlen die Wissenschaftler den Ärzten, bei der Verschreibung von Methylphenidat sehr vorsichtig zu sein. „Mediziner sollten die schlechte Qualität der Daten berücksichtigen, die Therapie sehr sorgfältig überwachen und gut die Vorteile und Risiken abwägen“, betont Groth.

Sie und ihre Kollegen raten aber ADHS-Betroffenen dringend davon ab, nun Ritalin eigenmächtig abzusetzen. „Patienten und ihre Eltern sollten dies unbedingt mit ihrem Arzt besprechen, bevor sie dies tun“, sagt der Kinderpsychiater Morris Zwi. „Und wenn ein Kind oder Jugendlicher gute Erfahrungen mit Methylphenidat gemacht hat und keine Nebenwirkungen erfährt, dann könnte es gute klinische Gründe geben, die Behandlung auch fortzusetzen.“ (Cochrane Database of Systematic Reviews, 2015; doi: 10.1002/14651858.CD009885.pub2)

(Cochrane Collaboration / Wiley, 25.11.2015 – NPO)

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