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Archäologie

Ältestes Opfer ritueller Enthauptung entdeckt

9.000 Jahre alter Schädel wurde gewaltsam abgetrennt und rituell zur Schau gestellt

Der Schädel mit den davor drapierten Händen (rechts) und die Grube, in der er gefunden wurde. © André Strauss / PLOS ONE

Gruseliger Fund: In Brasilien haben Forscher den ältesten Beleg für eine rituelle Enthauptung in der Neuen Welt entdeckt. Der 9.000 Jahre alte, gewaltsam abgetrennte Schädel war unter einem Felsunterstand begraben. Das Sonderbare dabei: Auf dem Schädel lagen die beiden abgetrennten Hände des Toten – gezielt über das Gesicht drapiert. Dieser überraschende Fund belege, dass schon die frühen Jäger und Sammler Südamerikas erstaunlich komplexe Totenriten besaßen, so die Forscher im Fachmagazin „PloS ONE“.

Die Ureinwohner Südamerikas waren nicht gerade zimperlich: Von den Inkas ist bekannt, dass sie unterworfene Feinde enthaupteten und dann deren Kopf als Trophäen ausstellten oder sogar als Trinkgefäße nutzten. Die Arara Indianer im brasilianischen Amazonasgebiet führten Zeremonien durch, bei denen die Schädel toter Feinde als Musikinstrumente zweckentfremdet wurden. Und die Nazca stellten Trophäen-Schädel her, die sie bei Ritualen mit sich herumtrugen.

„Kaum eine andere Verhaltensweise der amerikanischen Ureinwohner beeindruckte die europäischen Eroberer mehr als diese Zuschaustellung menschlicher Körperteile und speziell der Köpfe von Toten“, erklären André Strauss vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und seine Kollegen. Doch wann die Indiovölker mit diesem Brauch begannen und wo, blieb bisher unklar.

Verstümmelt und entbeint

Vor einigen Jahren stießen Strauss und seine Kollegen in Zentralbrasilien auf einen Felsüberhang, der offenbar schon vor gut 12.000 Jahren Jägern und Sammlern als Schutz und Lagerstätte gedient hatte. Davon zeugen neben Steinwerkzeugen und den ältesten Felszeichnungen Südamerikas auch die Überreste von 36 hier bestatteten Menschen.

Während jedoch die ältesten Skelette in typisch gestreckter Haltung in flachen Gräber beerdigt wurden, zeigen spätere, rund 9.000 Jahre alte Überreste Anzeichen für postmortale Verstümmelung. Die Toten wurden entbeint, ihnen wurden die Zähne entfernt und teilweise wurden die Leichen sogar verbrannt, bis nur die Knochen übrig blieben. „Diese wurden dann nach spezifischen Regeln erneut bestattet“, berichten die Forscher.

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Die abgetrennten Hände wurden auf das Gesicht des Toten gelegt © Gil Tokyo / PLOS ONE

Nur zwei Hände und ein Schädel

Ein Begräbnis allerdings fällt aus dem Rahmen. Denn von diesem Toten fanden die Forscher nur den Schädel mit Kieferknochen und den ersten sechs Halswirbeln sowie zwei abgetrennte Hände. Das Seltsame daran: Die Hände waren so auf dem Schädel platziert, dass die Handflächen das Gesicht des Toten verdeckten. Eine Hand zeigte dabei nach oben, die andere nach unten, wie die Forscher berichten.

Und noch etwas fiel auf: Sowohl die Handknochen als auch die Halswirbel weisen Spuren von Schnitten auf. „Diese Spuren deuten darauf hin, dass ein Werkzeug genutzt wurde, um die Hände mit Gewalt von den Armen zu trennen“, berichten Strauss und seine Kollegen. Ähnliches gelte für den Kopf. Der Leichnam dieses jungen Mannes wurde offensichtlich nicht nur entbeint, sondern auch enthauptet.

„Damit verlängert dieser Fund die Zeitlinie der Enthauptungen in Südamerika um mehr als 4.500 Jahre in die Vergangenheit“, konstatieren die Forscher. Noch dazu widerlegt dieser Fund frühere Annahmen, nach denen rituelle Enthauptungen vornehmlich in den Andenkulturen üblich waren und auch dort erstmals praktiziert wurden. Denn der nunmehr früheste Beleg für diese Praxis stammt nun aus dem brasilianischen Tiefland.

Schnittspuren am sechsten Halswirbel deuten auf eine gewaltsame Abtrennung des Kopfes hin © Strauss etg al. / PLOS ONE

Stärkendes Ritual?

Aber warum wurde der junge Mann vor mehr als 9.000 Jahren enthauptet und seine Überreste auf diese spezielle Weise arrangiert? „Normalerweise geht man davon aus, dass es sich gerade bei vornehmlich jungen Männern um besiegte feindliche Krieger handelt“, erklären die Wissenschaftler. Aber eine Analyse der Strontium-Isotope in den Knochen dieses Toten spricht dagegen, dass dieser junge Mann ein Außenseiter war.

„Die chemische Analyse ergab, dass es sich bei dem enthaupteten Mann um ein Mitglied der Gemeinschaft handelte und nicht um einen besiegten Feind“, berichten die Forscher. Sie gehen deshalb davon aus, dass ein spezielles Ritual dahinter stecken könnte. Die sorgfältige Anordnung der Hände über dem Gesicht spricht ihrer Ansicht nach für eine öffentliche Zurschaustellung. „Es könnte Teil eines Rituals gewesen sein, das den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken sollte“, so Strauss und seine Kollegen.

In jedem Fall demonstriere der Fund, wie komplex und fortgeschritten die Begräbnisriten dieser frühen Jäger und Sammler der südamerikanischen Steinzeit bereits waren. (PloS ONE, 2015; doi: 10.1371/journal.pone.0137456)

(PLOS, 24.09.2015 – NPO)

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