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Evolution

Forscher finden „Lucys“ Nachbar

Neue Vormenschenart lebte vor rund 3,5 Millionen Jahren parallel zum Australopithecus afarensis

Kiefer des Australopithecus deyiremeda, entdeckt in der Afar-Region Äthiopiens © Yohannes Haile-Selassie

Der Menschen-Stammbaum wird verwirrender: Forscher haben in Äthiopien ein Vormenschen-Fossil entdeckt, das von keiner bisher bekannten Art stammt. Dieser Australopithecus deyiremeda getaufte Vormensch lebte vor rund 3,3 – 3,5 Millionen Jahren in der Afar-Region und war damit direkter Nachbar von „Lucy“ und anderen Vertretern des Australopithecus afarensis. Warum damals mehrere Vormenschenarten in einem Gebiet lebten, ist bisher rätselhaft, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.

Kaum eine Phase der Menschheitsgeschichte ist so rätselhaft wie die Zeit vor rund drei Millionen Jahren. Lange ging man davon aus, dass damals nur eine Vormenschenart existierte – der Australopithecus afarensis. Ihre berühmteste Vertreterin ist das Fossil Lucy, das 1974 in der Afar-Region Äthiopiens entdeckt wurde.

Rätsel um Lucys Zeitgenossen

Doch 2012 wurden ebenfalls in der Afar-Region 3,4 Millionen Jahre alte Fußknochen gefunden, die sich von denen dieses Vormenschen unterschieden. Auch im Tschad stießen Forscher auf Fossilien, die zwar zur Gattung Australopithecus, aber zu einer anderen Art gehören mussten. Und vor wenigen Wochen stellten Paläontologen fest, dass auch das berühmte Fossil „Little Foot“ aus Südafrika keineswegs ein Nachfahre von Lucy und Co war, sondern ebenfalls ihr Zeitgenosse.

Seither streiten Anthropologen darüber, ob es wirklich so viele verschiedenen Vormenschen-Arten zur gleichen Zeit und teilweise in enger Nachbarschaft gegeben haben könnte, oder ob die Fossilfunde einfach falsch interpretiert wurden. Möglicherweise, so die Annahme, gab es doch nur eine Art mit großen individuellen Variationen. Der aktuelle Fund heizt die Diskussion nun weiter an.

Abguss von Ober- und Unterkiefer des Australopithecus deyiremeda © Laura Dempsey

Seltsamer Kiefer

Yohannes Haile-Selassie vom Cleveland Museum of Natural History und seine Kollegen entdeckten die Kieferknochen nur 35 Kilometer von der früheren Fundstelle „Lucys“ entfernt. Die Datierung der Knochen und Zähne ergab, dass dieser Vormensch vor 3,3 bis 3,5 Millionen Jahren hier gelebt haben muss – also zeitgleich mit Lucy.

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Doch die Form und Größe der Kiefer und Zähne unterscheiden sich deutlich von denen des Australopithecus afarensis, wie die Forscher berichten. So ist der Unterkiefer kräftiger und die Backenzähne sind größer und besitzen einen dickeren Zahnschmelz. Die Eckzähne sind dagegen eher klein. Aber auch zu anderen Vormenschen dieser Ära gibt es nach Angaben von Haile-Selassie und seinen Kollegen klare Abweichungen.

Eine eigene Art

Die Forscher schließen daraus, dass der neuentdeckte Kiefer von einer bisher unbekannten Art stammen muss, die sie Australopithecus deyiremeda tauften – zusammengesetzt aus den Afar-Wörtern „deyi“ für nah und „remeda“ für verwandt. „Diese neue Art bringt die anhaltende Debatte über die Diversität der frühen Homininen auf die nächste Stufe“, sagt Haile-Selassie. „Einige unserer Kollegen werden skeptisch sein, was diese neue Art angeht – aber das ist nicht ungewöhnlich.“

Geht man davon aus, dass die Interpretation als neue Art korrekt ist, dann wäre das Afar-Dreieck in Äthiopien vor rund 3,5 Millionen Jahren ein wahrer Tummelplatz für Vormenschen-Varianten gewesen. Auf engem Raum lebten hier demnach zwei, möglicherweise sogar drei verschiedene Arten zur gleichen Zeit und in enger Nachbarschaft.

Wie viele Australopithecus-Arten lebten nebeneinander? Und wie viele andere Vormenschen-Gattungen gab es noch? © Martin Sauer/ CC-by-sa 3.0

Koexistenz in der Nische?

Das aber wirft Fragen auf. Denn im Tierreich ist eine solche Koexistenz von sehr eng verwandten Arten eher selten. Meist unterschieden sich diese Arten in entscheidenden Merkmalen ihrer Lebensweise – sie besetzen jeweils andere Nischen. Doch vielleicht war dies bei den Vormenschen auch der Fall, mutmaßt Fred Spoor vom University College London in einem begleitenden Kommentar: „Eine Nischenaufteilung, durch Nahrungspräferenzen, Jagdstrategien, Habitatwahl oder Populationsbewegungen könnte auch in diesem Fall der Schlüssel sein.“

Gerade die Unterschiede in den Kiefern und Zähnen könnten beispielsweise auf Unterschiede in der Ernährung hindeuten. Ein weiteres Indiz sind die erst vor wenigen Tagen in Kenia entdeckten Steinwerkzeuge von Lomekwi, aus etwa der gleichen Zeit. Ihr Schöpfer ist noch unbekannt, auch er muss aber ein Zeitgenosse von Lucy und Co, aber auch der neu entdeckten Art gewesen sein. Möglicherweise war die Fähigkeit zur Werkzeug-Herstellung seine Nische.

„Ich denke, wir müssen diese frühen Phasen unserer Evolution mit Offenheit betrachten“, konstatiert Haile-Selassie. „Wir sollten die Fossilfunde sorgfältig auswerten, statt sofort jedes Fossil zu verwerfen, das nicht in unsere lange gehegten Hypothesen passt.“ (Nature, 2015; doi: 10.1038/nature14448)

(Nature, Cleveland Museum of Natural History, 28.05.2015 – NPO)

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