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Medizin

Risiken von Vioxx schon im Jahr 2000 erkennbar

Gefahr durch Schmerzmittel unabhängig von Dosis und Dauer der Einnahme

Die Herz-Kreislauf-Risiken des Medikaments Vioxx, das gerade wegen schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen werden musste, waren bereits Ende 2000 belegbar. Zu diesem Schluss kommen Forschende der Universität Bern, die die öffentlich zugänglichen Studiendaten zum umstrittenen Medikament analysiert haben. Zudem haben die Risiken unabhängig von der eingenommenen Dosis und der Dauer der Einnahme bestanden. Die Fachzeitschrift «The Lancet» publiziert die Ergebnisse jetzt in ihrer aktuellen Online-Ausgabe.

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Am 30. September zog die Firma Merck & Co. das Medikament Vioxx mit dem Wirkstoff Rofecoxib weltweit vom Markt zurück, nachdem eine Studie erhöhte Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei der Einnahme dieses COX-2-Hemmers gezeigt hatte. Das Medikament war seit längerem in Verdacht, vermehrt zu Herzinfarkten zu führen. Daher stellte sich nach dem Rückzug die Frage, ob nicht schon frühere Studien diese Risiken hätten belegen können.

„Statistisch signifikanter Unterschied“

Ein Team um Peter Jüni und Matthias Egger vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern hat die zur Verfügung stehenden Studiendaten nun im Rahmen eines Projekts im Nationalen Forschungsprogramm «Muskuloskeletale Gesundheit – Chronische Schmerzen» (NFP 53) mit Hilfe einer Meta-Analyse untersucht. Die Untersuchung basiert auf öffentlich zugänglichen Studiendaten der amerikanischen Medikamentenzulassungsbehörde (FDA) sowie auf einer ausgedehnten Literaturrecherche. In die Meta-Analyse wurden 18 randomisierte kontrollierte Studien und elf Beobachtungsstudien aufgenommen. «Unsere Analyse bestätigt den Verdacht, dass spätestens Ende 2000 jene Daten greifbar waren, welche ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen durch Vioxx belegten», sagt Peter Jüni. Zu diesem Zeitpunkt waren unter 20.742 Patienten 52 Herzinfarkte aufgetreten, 41 davon unter Vioxx – ein statistisch signifikanter Unterschied zu ungunsten von Vioxx.

Die Forscher der Universität Bern kritisieren insbesondere die Interpretation der Daten der so genannten VIGOR-Studie aus dem Jahr 2000. Diese hatte Wirkung und Nebenwirkung von Rofecoxib (Vioxx) mit einem anderen Schmerzmittel, Naproxen – unter anderem Apranax oder Aleve-, verglichen. In dieser Studie waren deutliche Unterschiede bei den Herzinfarkt-Risiken zu Tage getreten. Die Leiter der VIGOR-Studie hatten diesen Unterschied aber der vermeintlich schützenden Eigenschaft von Naproxen und nicht einem erhöhten Herzinfarkt-Risiko von Rofecoxib zugeschrieben. «Für diese Interpretation fanden wir aber keine Belege», bilanziert Matthias Egger. «Schon in dieser Studie hätte eine erhöhte Häufigkeit von Herzinfarkten aufgrund von Rofecoxib in Betracht gezogen werden müssen.»

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In ihrer Medienmitteilung zum Rückzug schreibt Merck, dass die Firma «aufgrund der vorhandenen alternativen Therapiemöglichkeiten und der Fragen, die durch diese Daten aufgeworfen werden, zu dem Schluss gekommen» sei, dass eine freiwillige Marktrücknahme der beste Schritt sei. «Wenn diese Aussage im September 2004 angemessen war, dann hätte die Firma dieselbe Aussage bereits mehrere Jahre zuvor machen können oder müssen, als die Daten vorlagen, auf die wir Zugriff hatten», sagt Matthias Egger. Zu dieser Zeit erschien aber eine Medienmitteilung von Merck mit dem Titel: «Merck bestätigt erneut die günstige kardiovaskuläre Sicherheit von Vioxx.»

Risiken unabhängig von Dauer und Dosis

Die Meta-Analyse stellt weitere Aussagen des Arzneimittelherstellers in Frage: So wurde das Medikament mit dem Hinweis zurückgezogen, von den Risiken seien nur Patienten betroffen, die Vioxx 18 Monate und länger eingenommen hätten. «Dies konnten wir nicht bestätigen», sagt Jüni. «Die Daten zeigen, dass ein erhöhtes Herzinfarktrisiko bereits bei einer Einnahmedauer von wenigen Monaten besteht, und dass dieses Risiko unabhängig ist von der eingenommenen Dosis.»

Auffallend war auch, dass Studien, bei denen die Daten unabhängig er-fasst und bewertet wurden, ein deutlicheres Resultat in Hinblick auf die Nebenwirkungen aufwiesen. Bei einer unabhängigen Datenerfassung werden die Studienergebnisse nicht durch die Studienleiter bewertet, sondern durch unabhängige Forschende, welche die Studie nicht selbst durchführen. «Es könnte sein», so Egger, «dass bei einer fehlenden un-abhängigen Beurteilung der Daten die Resultate günstiger eingestuft werden, so dass Medikamentenrisiken kleiner erscheinen. Wir empfeh-len deshalb, dass Studien grundsätzlich mit einer unabhängigen, exter-nen Datenbewertung durchgeführt werden.»

Mehr Transparenz gefordert

Die Analyse der Daten zu Vioxx zeigt auch, dass die Zulassungsbehörden ihr Vorgehen kritisch überdenken sollten. Neue Daten und Erkenntnisse zu einem Medikament sollten regelmäßig in die Dokumentation aufgenommen und fortlaufend analysiert werden. «Wie das Beispiel Vioxx zeigt, ist dies heute nicht immer gewährleistet», sagt Jüni. «Nur mit einem kontinuierlichen Monitoring könnten wir sicherstellen, dass die Bevölkerung vor unnötigen Medikamentennebenwirkungen geschützt wird», ergänzt Egger. «In diesem Fall sollten zudem die Gründe, weshalb Hersteller und Zulassungsbehörden neue Erkenntnisse und Daten nicht kontinuierlich erfasst und neu bewertet haben, durch ein unabhängiges Gremium untersucht werden.»

(Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, 05.11.2004 – NPO)

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