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Technik

Fußball-WM: Ein Gelähmter spielt den ersten Ball

Exoskelett mit Sensorhaut lässt Gelähmte gehen und den Boden spüren

Das Walk-Again-Projekt und das Prinzip hinter dem Exoskelett, das Gelähmte wieder laufen lässt © Walk Again Project

Den Startschuss zur Fußball-WM wird ein Querschnittsgelähmter geben. Mit Hilfe eines speziellen Exoskeletts – gesteuert durch seine Hirnströme – wird er sich aus dem Rollstuhl erheben und gegen den Ball treten. Das Besondere daran: Das Exoskelett hilft nicht nur bei den Bewegungen, es lässt seinen Träger sogar den Boden und die Umwelt spüren. Entwickelt wurde die Technologie dafür vom internationalen Forscherteam des Walk-Again-Projekts.

Das Walk-Again-Projekt und das Prinzip hinter dem Exoskelett, das Gelähmte wieder laufen lässt© Walk Again Project

Alles ist bereit für den ersten Kick bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Schon seit Monaten trainieren acht brasilianische Männer und Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren für den Moment des Anstoßes. Sie alle sind keine Profi-Fußballer – und sie sind von der Hüfte an abwärts gelähmt. Dass sie trotzdem aus ihren Rollstühlen aufstehen und gehen können, verdanken sie dem Walk-Again-Projekt.

Hirnströme per Internet als Ideengeber

Die Idee dazu kam Gordon Cheng von der Technischen Universität München und Miguel Nicolelis von der Duke University bei einem gemeinsamen Experiment im Jahr 2008: „Miguel ließ in North Carolina einen Affen auf einem Laufband gehen, und mit Hilfe von dessen Hirnsignalen brachte ich meinen humanoiden Roboter in Kyoto zum Laufen“, beschreibt Cheng den damaligen Versuch. Der Clou daran: In den USA wurden die Hinströme des Affen ausgelesen und daraus die Signale isoliert, die das Laufen steuern. Diese wurden nach Japan übertragen und dem Roboter eingespeist. Dieser war darauf programmiert, diese Signale interpretieren zu können, ähnlich wie es unser Körper tut. Er bewegte sich daher genauso, wie der tausende Kilometer von ihm entfernte Affe.

Von dort war es für die Forscher nicht mehr weit zu der Vision, diese Technologie auch für gelähmte Menschen einzusetzen. Ihre Idee: Statt der Hinströme eines Affen könnten die Hirnströme des Gelähmten selbst genutzt werden, um ein Exoskelett zu steuern, dass ihn stützt. „Unser Gehirn ist sehr anpassungsfähig, wenn es darum geht, körperliche Fähigkeiten durch die Verwendung von Werkzeugen zu erweitern, wie zum Beispiel beim Autofahren oder beim Essen mit Stäbchen“, sagt Cheng. „Nach dem Kyoto-Experiment waren wir uns sicher, dass das Gehirn auch einen gelähmten Körper befreien könnte, mittels eines externen Körpergerüsts wieder zu gehen.“

Eine Exoskelett-Haut, die fühlen kann

Gemeinsam mit einen Team von mehr als 100 Forschen weltweit machten sich Nicolelis und Cheng an die Arbeit. Das Exoskelett des Walk-Again-Projekts sollte aber mehr können als nur laufen: Die Herausforderung war es, einem gelähmten Menschen nicht nur die Fähigkeit zum Gehen zu geben, sondern zugleich das Gefühl, den Boden zu berühren. Die Sensoren des Exoskeletts mussten daher auch taktile Reize verarbeiten und weitergeben können. Dies ermöglicht CellulARSkin – ein robustes und selbstorganisierendes Netzwerk von Sensoren.

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Die Basiseinheit ist ein flaches, sechseckiges Paket elektronischer Komponenten, das einen energiesparenden Mikroprozessor enthält, sowie Sensoren, die Berührungsnähe, Druck, Vibration, Temperatur und sogar Bewegung im dreidimensionalen Raum erfassen. Beliebig viele dieser „Zellen“ können in einem bienenwabenförmigen Muster miteinander vernetzt werden – im derzeitigen Prototyp geschützt durch eine gummiartige Formhaut aus Elastomer.

Die Basiseinheit von CellulARSkin ist ein flaches, sechseckiges Paket elektronischer Komponenten © U. Benz / TUM

Den Boden spüren

Im Walk-Again-Projekt wird CellulARSkin auf zweierlei Arten verwendet. In das Exoskelett integriert, beispielsweise an den Fußsohlen, sendet die künstliche Haut Signale an kleine Motoren, die an den Armen des Patienten vibrieren. Durch Training mit dieser Art der indirekten sensorischen Rückmeldung kann ein Patient lernen, die Roboter-Beine und Füße in seine eigenen Körperschemata zu integrieren. CellulARSkin wird außerdem um bestimmte Körperteile des Patienten gewickelt, um dem medizinischen Team eventuelle Anzeichen von Stress oder Unbehagen zu übermitteln.

„Ich vermute, dass manche den Weltcup-Auftakt als den Schlusspunkt einer Entwicklung sehen werden“, sagt Cheng, „aber in Wirklichkeit ist es nur der Anfang. Dies mag ein wichtiger Meilenstein sein, aber es gibt noch sehr viel mehr zu tun.“ Er sieht die Veranstaltung als öffentliche Demonstration, was Wissenschaft für die Menschen tun kann. „Außerdem sehe ich es als große Anerkennung für die Tapferkeit und harte Arbeit der Patienten!“

(TU München, 12.06.2014 – NPO)

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