Anzeige
Medizin

„Re-learning“ gegen chronischen Schmerz

Kombiniertes Training "überschreibt" Schmerzgedächtnis

Das Gehirn kann chronische Schmerzen „verlernen“ – vorausgesetzt, es erhält dafür sowohl ein medikamentöses als auch ein psychisches „Trainingsprogramm“. Damit haben auch chronische Schmerzpatienten eine Chance auf Genesung oder zumindestens Linderung ihrer Beschwerden. Diese relativ neue Erkenntnis haben Schmerzforscher im Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses 2004 in Leipzig referiert und diskutiert.

{1l}

„Chronischer Schmerz ist gelerntes Verhalten, ein in Körper und Geist abgespeichertes „Programm“ das mit der richtigen Therapie „überschrieben“ werden kann“, erklärte der Schmerzforscher Prof. Dr. Walter Zieglgänsberger vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Er betonte, dass eine zeitgleiche medikamentöse und Verhaltenstherapie wichtig sei. An der „Krücke“ des Schmerzmittels müsse der Patient sonst schmerzhafte Bewegungen schmerzfrei ausüben und dabei abspeichern, dass die Bewegung gar nicht weh tut. Er müsse Aktivitäten nachgehen, die ihm sonst der Schmerz verwehrt und sehen, wofür es sicht lohnt zu kämpfen. Dieser re-learning-Prozess laufe gleichzeitig auf körperlicher und psychischer Ebene ab. „Viel zu oft werden nur Schmerzmittel verschrieben und Ruhe verordnet – das ist kontraproduktiv!“, so der Spezialist.

Ängstliche Erwartung fast schlimmer als Schmerz

Dass Schmerz Angst auslöst, ist sinnvoll: Schmerzen sollen uns warnen, damit wir aufhören zu tun, was uns schadet, etwa damit wir den Finger schnell von der heißen Herdplatte nehmen. Aber wenn der Schmerz chronisch wird, verliert er seine Warnfunktion und die Angst rückt in den Vordergrund: Der Schmerzpatient weiß, dass eine bestimmte Bewegung weh tut, und er fürchtet diesen Schmerz. Durch die ständige Vorwegnahme des schmerzhaften Reizes empfindet er ihn umso stärker, wenn er dann tatsächlich kommt. Und nicht nur diese sensorische Empfindung ist unangenehm, der Schmerz ist auch ärgerlich und erniedrigend, verursacht unangenehme Emotionen, die mit der Bewegung verknüpft werden.

Die Fessel der Vermeidung

Binnen kurzer Zeit hat der Patient daraus gelernt: Er wird die schmerzhaften Bewegungen vermeiden, und darüber hinaus alle Situationen, in denen er in die Verlegenheit geraten könnte, sie ausführen zu müssen. Der Rückenschmerzpatient, der schlecht sitzen kann, wird nicht mehr arbeiten, auf Kneipe, Kino und Theater verzichten, sich einigeln. Das tut weder Körper noch Seele gut: Die Kondition leidet, Muskeln erschlaffen, die Laune sinkt, Depressionen können folgen. Wer an diesem Punkt zum Arzt geht, bekommt viel zu oft einfach ein Schmerzmittel verschrieben und die Empfehlung, sich „mal auszuruhen“.

Anzeige

Doch auf Dauer verbessert das nichts, im Gegenteil fördert es Schonhaltungen und Ver-meidungsverhalten. Lässt die Medikamentenwirkung nach, sind Angst und Schmerz wieder zurück als wäre nichts gewesen. „Wenn ich mir für eine Weile eine schwarze Brille aufsetze, merke ich mir das zuvor gesehene Bild natürlich weiterhin, es wird ja derweil durch nichts anderes ersetzt“, vergleicht Prof. Zieglgänsberger. Diese Erfahrung bedeute für den Patienten oft eine große Enttäuschung.

Altes Programm überschreiben in den „Schmerzferien“

Wirkliche Hilfe können nur Behandlungskonzepte bieten, die die Trennung zwischen Körper und Geist aufgeben. „Bei chronischen Schmerzpatienten ist es längst die Angst, die die dominante Rolle spielt“, so Zieglgänsberger, „chronischer Schmerz ist erlernt.“ Der Schlüssel zum Erfolg gegen die Schmerzkrankheit liege daher in einer zweiteiligen Therapie aus Schmerzmedikamenten und Verhaltenstherapie. Das Schmerzmittel – gegebenenfalls übergangsweise ein starkes – schalte den Schmerz zuerst einmal aus. Der Patient macht „Schmerzferien“.

Zurücklehnen und Nichtstun sei aber nicht angesagt: In dieser Zeit der Schmerzfreiheit müsse er aktiv werden, alles tun, was ihm sonst weh tue und merken: Diese Bewegung verursacht ja gar keinen Schmerz. Seine Erwartung war falsch – man spricht vom „prediction error“. Solche überraschenden Erfahrungen prägen sich ein, werden abgespeichert und überschreiben die negativen Lerninhalte.

Re-learning-Prozess initiiert

Wer an der Krücke des Schmerzmedikaments Beschäftigungen nachgeht, die ihm sonst der Schmerz verwehrt, der sieht plötzlich auch ganz deutlich, was ihm durch den Schmerz entgeht und wofür es sich lohnt zu kämpfen. „Natürlich ist es mitunter schwierig für Patienten, ihre gewohnte Haltung aufzugeben und wieder aktiv zu werden“, so Prof. Zieglgänsberger, „aber: Das Leben findet vor dem Tod statt!“

Mit dieser Motivation werde das „Programm chronischer Schmerz“ nach und nach

überschrieben: Bewegungen werden von der Erwartung der mit ihnen verbundenen negativen Empfindungen und Emotionen entkoppelt, man spricht vom Re-learning-Prozess. Die körperliche Kondition und die seelische Verfassung bessern sich. Irgendwann könne die Schmerzmedikation vielleicht sogar ganz abgesetzt werden.

(Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. (DGSS), 08.10.2004 – NPO)

Teilen:
Anzeige

In den Schlagzeilen

News des Tages

Blutstropfen auf Fingerkuppe

Neues Diagnose-Verfahren erkennt zahlreiche Krebsarten

Wie KI das Internet schneller macht

Robo-Spinne soll Marshöhlen erkunden

Wie man beim Dart gewinnt

Diaschauen zum Thema

keine Diaschauen verknüpft

Dossiers zum Thema

Schmerz - Alarmstufe Rot im Nervensystem

Bücher zum Thema

Schmerz - Eine Kulturgeschichte von David Le Breton

Top-Clicks der Woche