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Geowissen

Spuren von Urzeit-Eisschilden im Nordpolarmeer entdeckt

Klimageschichte des Arktischen Ozeans muss umgeschrieben werden

Vor Sibiriens Nordküste deuten Schrammen auf urzeitliche Mega-Eisschilde hin © Niessen/IBCAO, Jakobsson et al. / Geophys. Res. Letters

Ein Fund am Grund des Nordpolarmeeres widerlegt die gängige Klimageschichte für diese Region: Statt einer verlandeten Kältewüste wie bisher gedacht, ähnelte das arktische Meer vor Sibirien während der Eiszeiten eher den gletscherüberdeckten Landflächen: Tiefe Schrammen am Grund zeugen von mehr als einen Kilometer dicken Eisschilden. Damit müsse die Klimageschichte der letzten 800.000 Jahre für dieses Gebiet neu geschrieben werden, berichten Forscher im Fachmagazin „Nature Geoscience“.

Seit rund 800.000 Jahren pendelt das Erdklima regelmäßig zwischen zwei Extremen: Kaltzeiten und Warmzeiten. Während der Kaltzeiten waren große Gebiete der nördlichen Kontinente von kilometerdicken Eismassen überdeckt, die sich von Skandinavien immer wieder auch bis in den norddeutschen Raum ausgedehnt haben. Inwieweit aber auch der Arktische Ozean von so extrem dicken Eisschilden überdeckt war, blieb bisher unklar.

Kältewüste statt Gletschereis?

„Bisher waren viele Wissenschaftler der Überzeugung, dass sich die Megavereisungen stets auf den Kontinenten abgespielt haben – ein Fakt, der für Grönland, Nordamerika und Skandinavien auch nachgewiesen ist“, erklärt Frank Niessen vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Die nordostsibirische Küstenregion aber, so nahm man an, sei in diesen Eiszeiten trocken gefallen und hätte sich in eine riesige Kältewüste verwandelt, in der es nicht genügend Schnee gab, um über die Jahre einen dicken Eispanzer heranwachsen zu lassen.

Allerdings: Bereits im Jahr 2008 hatte Niessen gemeinsam mit Kollegen erste auffällige Kratzspuren und Schlammablagerungen am Meeresgrund nördlich der russischen Wrangel-Insel entdeckt. Großflächige Beweise aber konnten sie erst im vergangenen Jahr während einer Arktis-Expedition auf dem südkoreanischen Forschungsschiff „Araon“ sammeln. „Nachdem wir die bathymetrischen und seismischen Daten unserer ersten Fahrt ausgewertet hatten, wussten wir genau, wo wir auf der zweiten Expedition suchen und den Meeresboden mit dem Fächersonar der Araon vermessen mussten“, erzählt Niessen.

Gletscherschrammen am Meeresboden des Arlis-Plateaus © Niessen/ Alfred-Wegener-Institut

Verräterische Kratzspuren

Das Ergebnis der Expedition ist eine topografische Karte des Arlis-Plateaus, einem Unterseeberg, auf dessen Hochebene und an dessen Flanken tiefe, parallel verlaufende Furchen zu erkennen sind – und das auf einer Fläche von 2.500 Quadratkilometern und bis in eine Wassertiefe von 1.200 Metern.

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„Solche Kratzspuren kannten wir bisher zum Beispiel aus der Antarktis und aus Grönland“, erklärt Niessen. Sie entstehen, wenn große Eisschilde auf dem Meeresboden liegen und im Zuge ihrer Fließbewegung wie ein Hobel mit vielen kleinen Messern über den Grund schaben.

„Das Besondere an unserer neuen Karte ist, dass sie mit großer Genauigkeit gleich auf vier oder mehr Generationen von Eismassen schließen lässt, die sich in den zurückliegenden 800.000 Jahren von der Ostsibirischen See in nordöstliche Richtung bis weit in den tiefen Arktischen Ozean bewegt haben“, so der Geologe. Diese neuen Erkenntnisse stellen die bisherige Lehrbuchmeinung auf den Kopf, denn sie wiederlegen die Annahme einer verlandeten, kaum vereisten arktischen See. „Unsere Arbeit zeigt jetzt, dass das Gegenteil der Fall war“, sagt Niessen. „Mit Ausnahme der letzten Eiszeit vor 21.000 Jahren bildeten sich in den flachen Bereichen des Arktischen Ozeans mehrmals Eisschilde, die mindestens 1.200 Meter dick wurden und sich vermutlich über eine Fläche so groß wie Skandinavien erstreckten“, so der Forscher.

Schwindendes Eis wird noch weitere Überraschungen enthüllen

Unter welchen klimatischen Bedingungen diese Eisschilde jedoch herangewachsen sind und wann genau sie ihre Spuren auf dem Grund des Arktischen Ozeans hinterlassen haben, können die AWI-Wissenschaftler noch nicht genau sagen. „Wir gehen davon aus, dass die ostsibirischen Eisschilde während verschiedener Eiszeiten entstanden sind, als die damalige globale Durchschnittstemperatur etwa fünf bis acht Grad Celsius unter dem heutigen Wert lag“, so der Geologe. „Dieser relativ geringe Temperaturunterschied hat aber anscheinend mehrmals ausgereicht, um anfänglich dünnes Meereis zu einer riesigen Eiskappe heranwachsen zu lassen. Ein Beispiel, das zeigt, wie empfindlich die Arktis auf Veränderungen im globalen Klimasystem reagiert.“

Niessen und seine Kollegen erwarten für die Zukunft noch eine Vielzahl überraschender Entdeckungen im Arktischen Ozean. „Je weiter die arktische Meereisdecke schrumpft, desto mehr bisher unerforschtes Meeresgebiet wird zugänglich. Heutzutage sind noch immer weniger als zehn Prozent des Meeresbodens im Arktischen Ozean so gut vermessen wie jetzt das Arlis Plateau“, sagt der AWI-Geologe. (Nature Geoscience, 2013; doi: 10.1038/NGEO1904)

(Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, 30.09.2013 – NPO)

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