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Neurobiologie

Wir halten im Zweifel eher Frauen für Männer als umgekehrt

Selbst eindeutig weibliche Körperformen werden im Test nicht als solche erkannt

Darstellung von Personen mit verschiedenem Taille-Hüft-Verhältnis. © Proceedings of the Royal Society B

Unsere Wahrnehmung anderer Menschen ist systematisch verzerrt: Wenn wir das Geschlecht eines anderen nur anhand der Körperform unterscheiden sollen, halten wir Frauen häufiger für Männer. Das haben US-amerikanische Forscher in einem Experiment herausgefunden. Ihre Probanden ordneten selbst Körperformen, die ein nur bei Frauen vorkommendes Taille-Hüft-Verhältnis zeigten, mehrheitlich dem männlichen Geschlecht zu. Als eindeutig weiblich hätten die Teilnehmer dagegen nur übertriebene, in der Natur gar nicht vorkommende Körper mit überschlanker Taille und breiter Hüfte erkannt, berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin „Proceedings of the Royal Society B“. Ursache dafür ist ihrer Ansicht nach eine Art Vorsichtsmaßnahme: Da von einem Mann biologisch gesehen eher eine Bedrohung ausgehe, sei es wichtiger, diese schon von Ferne zu erkennen. Dann könne man ihr rechtzeitig aus dem Weg gehen.

„Verglichen mit Frauen sind Männer nicht nur körperlich stärker, sondern neigen auch eher zur Aggression“, schreiben Kerri Johnson von der University of California in Los Angeles und ihre Kollegen. Folglich stelle ein unbekannter Mann eher eine potenzielle Gefahr dar als eine Frau. Könne man nicht eindeutig erkennen, um was es handele, sei es daher sinnvoll, auf Nummer Sicher zu gehen und lieber einmal zu viel auszuweichen als einmal zu wenig. Von dieser theoretischen Überlegung ausgehend haben die Forscher daher die Treffsicherheit unserer Geschlechtererkennung anhand der Körperform – also dem, was wir von weitem sehen – im Experiment überprüft.

Taille-Hüft-Verhältnis als Erkennungsmerkmal

Für ihre Studie ermittelten die Forscher zunächst das für das jeweilige Geschlecht typische Verhältnis von Taille zu Hüfte. Frauen besitzen normalerweise eine kurvigere Figur mit breiterer Hüfte und schmalerer Taille als Männer. Deshalb ergibt sich beim Dividieren von Taillenbreite und Hüftbreite bei ihnen eine kleinere Zahl. Die Wissenschaftler ermittelten diesen Wert bei 4.803 jungen Männer und Frauen. „Ein Taillen-Hüft-Verhältnis zwischen 0,64 und 0,72 kam nur bei den Frauen vor, die Spannbreite der weiblichen Formen reichte aber bis 0,78“, berichten sie. Männer dagegen hatten mehrheitlich ein Taillen-Hüft-Verhältnis von 0,88 bis 1,09. Die Grenze zwischen beiden lag bei etwa 0,8.

Im eigentlichen Test prüften die Forscher, wie 53 Probanden – Männer und Frauen – Körperformen einschätzten, die ihnen als Computergrafik gezeigt wurden. Die Taillen-Hüft-Verhältnisse dieser insgesamt 21 verschiedenen stilisierten Körper variierten zwischen 0,5 und 0,9. Wie die Wissenschaftler berichten, ordneten die Teilnehmer Körper mit Werten zwischen 0,7 und 0,9 mehrheitlich als männlich ein. Nur Körper mit Werten zwischen 0,5 und 0,66 wurden als Frauen erkannt und eingeordnet. „Das ist deshalb erstaunlich, weil diese extrem weiblichen Körperformen in der Natur gar nicht existieren“, schreiben Johnson und ihre Kollegen. Das Ergebnis belege eindeutig, dass es einen systematischen Hang dazu gebe, eine Figur im Zweifel eher als männlich einzustufen.

Welche Rolle Emotionen für diese Verzerrung spielen, untersuchten Johnson und ihre Kollegen in einem weiteren Test. 237 Probanden sollten dazu erneut die Körperformen einstufen, diesmal aber einmal vor und einmal nachdem sie ein kurzes Video gesehen hatten. Die Filme zeigten entweder eine freudige, eine traurige oder aber eine bedrohliche Szene – eine Frau läuft vor einem Verfolger weg. Ein vierter Film zeigte nur abstrakte fraktale Formen. Das Ergebnis: Nach dem bedrohlichen Video neigten die Versuchspersonen noch mehr als zuvor dazu, weibliche Formen als männlich einzustufen. Bei den anderen Videos gab es dagegen keine Unterschiede zwischen Vorher und Nachher. „Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die Geschlechts-Einstufung auch ein wenig vom Zusammenhang abhängt“, erklären die Forscher. Aber auch in völlig neutralen Situationen bleibe die Verzerrung unserer Einstufung bestehen. (doi:10.1098/rspb.2012.2060)

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(Proceedings of the Royal Society B, 17.10.2012 – NPO)

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