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Laubsäckchen als Gesundheits-Check für Flüsse

Forscher testen neue Methode der ökologischen Bewertung von europäischen Fließgewässern

Laubansammlung in einem europäischen Mittelgebirgsbach © M. O. Gessner

Den ökologischen Zustand von einhundert Fließgewässern in ganz Europa haben jetzt zehn Forscherteams aus neun Ländern mit einer völlig neuen Methode untersucht. Als Bewertungshilfe diente ihnen ein Säckchen mit Eichenlaub, das über längere Zeit in den Gewässern platziert wurde. Die Wissenschaftler untersuchten, inwieweit die Abbaurate der Blätter Aufschluss darüber gibt, wie sauber oder verschmutzt und wie ökologisch gesund ein Fluss ist. Über die Studie berichten sie im Fachmagazin „Science“.

Flüsse und Bäche in Europa sind durch Landwirtschaft, Abwässer und Schadstoffe aus der Atmosphäre unterschiedlich stark belastet. Die im Jahr 2000 in Kraft getretene Wasserrahmenrichtlinie der EU hat deshalb zum Ziel, bis 2015 alle Fließgewässer in einen „guten ökologischen und chemischen Zustand“ zu überführen. Insbesondere solle auch die ganzheitliche Betrachtung aus ökologischer Sicht mehr berücksichtigt werden, heißt es in der Richtlinie. Um den Zustand von Bächen und Flüssen zu ermitteln, messen Umweltexperten derzeit routinemäßig Parameter wie Temperatur, Säuregrad und Nährstoffgehalt. Und sie untersuchen die Zusammensetzung des sogenannten Makrozoobenthos – das sind Insektenlarven und andere Kleinlebewesen an der Gewässersohle. Letztere Methode wurde ursprünglich entwickelt, um zu

beurteilen, wie stark das Wasser durch Abwässer belastet ist.

Heute ist die Belastungssituation von Gewässern viel komplexer. Uferbefestigungen, Staustufen und massive Veränderungen des natürlichen Abflusses beeinträchtigen Fließgewässer als Ökosysteme ebenso stark wie eine Vielzahl chemischer Stoffe, die Einwanderung exotischer Arten und der

Klimawandel. Für die Beurteilung eines Ökosystems in seiner Gesamtheit reichen die etablierten Kriterien deshalb nicht mehr aus, ist Professor Mark Gessner vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) überzeugt. „So wie ein Patient ohne Fieber trotzdem krank sein kann, können Bäche und Flüsse als Ökosystem trotz sauberen Wassers eine Vielzahl

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anderer Probleme haben“, sagt der Biologe. Mitentscheidend für ein gesundes Ökosystem seien funktionierende Prozesse, die für das natürliche System charakteristisch sind. Dieser Aspekt werde bei der Bewertung von Fließgewässern bislang völlig ausgeklammert.

Große Köcherfliegenlarven aus der Familie der Limnephilidae, die in Fliessgewässern sehr effizient Laubstreu zersetzen. © J. J. Casas

Säckchen mit Eichenlaub als Messinstrument

Gessner und seine europäischen Forscherkollegen haben deshalb ein neues Verfahren getestet, das auf einem solchen Prozess beruht – dem Abbau von Laub in Fließgewässern. „Laubeintrag ist die wichtigste Quelle für die Nahrungsnetze in kleineren Fließgewässern und von größter Bedeutung für

den Gesamtstoffumsatz“, so Gessner, der die Untersuchungen mit seiner ehemaligen Arbeitsgruppe an der Eawag, dem Wasserforschungsinstitut der Schweiz, durchgeführt hat. Verantwortlich für den Abbau sind vor allem mikroskopisch kleine Pilze mit zum Teil bizarr geformten Sporen sowie das

Makrozoobenthos.

Die Forscher platzierten mit Erlen- und Eichenlaub gefüllte Netzbeutel in 100 Bächen in Frankreich, Großbritannien, Irland, Polen, Portugal, Rumänien, Spanien, Schweden und der Schweiz. Durch die Wahl verschiedener Maschenweiten konnte das Makrozoobenthos ein- oder ausgeschlossen und

dadurch dessen Beitrag am Abbau ermittelt werden. Die Nährstoffkonzentration in den Gewässern unterschied sich um einen Faktor bis zu Tausend. Dann ermittelten die Forscher die Zeit, in der bei normierter Temperatur die Hälfte des Laubs abgebaut wurde – analog der Halbwertzeit beim radioaktiven Zerfall. Außerdem bestimmten sie in einem Teil der Gewässer Anzahl und Artenspektrum des Makrozoobenthos sowie die Konzentration von Phosphat und mineralischen Stickstoffverbindungen.

Aussagekraft nur in Kombination mit anderen Methoden

Es zeigte sich, dass in nährstoffarmen Gewässern nur wenige Organismen leben, die das Laub effizient nutzen können. Gewässer mit einem hohen Überangebot an Nährstoffen bieten für diese Tiere ebenfalls kaum geeignete Lebensbedingungen. Entsprechend gering war in beiden Fällen ihr Beitrag zum Abbau. Im Bereich mittlerer Nährstoffkonzentrationen fanden die Forscher jedoch keinen Zusammenhang mehr zwischen Konzentration, Makrozoobenthos und Abbaurate. Gessner sagt das so: „In manchen Bächen mit mittlerer Nährstoffkonzentration war der Abbau durch Tiere rasant schnell. In anderen hingegen erfolgte er ebenso langsam wie in den nährstoffarmen und stark verschmutzten Gewässern.“

Ein beschleunigter Laubabbau kann also Beeinträchtigungen durch Nährstoffe signalisieren, wo herkömmliche Methoden auf eine einwandfreie Gewässerqualität schließen würden, nämlich im Bereich relativ niedriger Nährstoffkonzentrationen. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass der Laubabbau als Bewertunsgmethode differenziert betrachtet werden muss und nur in Kombination mit anderen Kriterien funktioniert. Gessner sieht trotzdem Potenzial in der Methode: „Eine ganzheitliche Betrachtung der Gewässer ist unabdingbar. Und wir brauchen eine leistungsfähige Differentialdiagnose, ähnlich wie in der Medizin.“ Prozesse wie der Laubabbau könnten hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. „Als allzeit verlässlicher Gesundheits-Check reicht schnelles Fiebermessen für Fließgewässer in Europa schon lange nicht mehr aus“, ist der Biologe überzeugt.

(Science / Forschungsverbund Berlin e.V., 15.06.2012 – NPO)

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